Was macht man heutzutage? Man fokussiert. So kann man es sich leicht machen. Die Leitung der Charité traf eine Auswahl mit Sinn fürs Reißerische. Andere Institute, die ein Jubiläum begehen, vergessen gerne die Epoche der DDR, zum Beispiel die Komische Oper Berlin. Anders die Charité-Oberen: DDR und Stasi – das macht doch Furore.
Anfang September eröffnete der Vorstandsvorsitzende der Charité, Karl Max Einhäupl, in einer »Auftaktveranstaltung« im Berliner Abgeordnetenhaus die Ausstellung »Die Charité zwischen Ost und West (1945-1992). Zeitzeugen erinnern sich.« Schirmherr ist Walter Momper, Präsident des Abgeordnetenhauses. Mit von der Partie: Marianne Birthler, Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der »ehemaligen« DDR, und Anna Kaminsky, Geschäftsführerin der »Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur«. Birthler gab die Akten, Kaminsky das Geld, das die Ausstellung zu 30 bis 40 Prozent finanzierte (genaue Zahlen werden nicht genannt).
Um der DDR-Epoche beizukommen, schafft man eine Legende. Eine Aufarbeitung der letzten 50 Jahre sei bisher kaum erfolgt, weiß Walter Momper. Die Logik: wo die Historiker nichts wissen, sollen Zeitzeugen helfen, die man noch befragen kann. »Oral History« ist sowieso große Mode. Man nimmt die Aussagen der Zeitzeugen, die sich mehr oder weniger gut erinnern können (einige wollen gar nichts sagen), splittet diese nach verschiedenen Gesichtspunkten und kommentiert oder illustriert sie mit Aktenfunden (zum Beispiel aus der Birthler-Behörde) oder privaten Dokumenten und Fotos. Daraus bauen die Kuratoren Rainer Herr und Laura Hottenrott sieben Spannungsbögen, woher, bleibt zunächst offen, wohin, ist klar – zur Charité. So entsteht ein Bild der Charité als Objekt: Sozialobjekt, Versorgungsobjekt, Politobjekt, Grenzobjekt, Observationsobjekt des MfS, Prestige- und Medienobjekt. Es drängt sich das Bild eines Patienten auf, in den etwas hineingetrichtert wird, ob er will oder nicht. Die Gewalten, die über ihm stehen, sind die SED, die DDR und – die Stasi! So entstehen in der Wandelhalle des Abgeordnetenhauses an Stahlgerüsten Bildflächen, deren Texte zu lesen 6 Stunden dauert, wie Thomas Schnalke, Leiter des Medizinhistorischen Museums der Charité, ermittelt hat. Eine Leseausstellung. Kleines Handicap: die Hälfte der Texte kann der Betrachter allenfalls lesen, wenn er sich tief hinabbeugt. Eine Gestaltung (Team der Universität der Künste), die nicht in Rechnung stellt, dass Ausstellungen im Abgeordnetenhaus zumeist von Gruppen besucht werden, die es eilig haben. Zu den jeweiligen Objekten werden Textkollagen aus den Zeitzeugeninterviews abgespielt, deren Satzfetzen Details zum betreffenden Thema liefern sollen. Vollständige oder gekürzte Interviews können an keiner Stelle abgehört werden. Es hilft auch nicht, dass sie im Begleitbuch stehen: Das kostet 24,95 Euro und wiegt 1,3 Kilogramm. Selbst den Interviewten dürfte es schwerfallen nachzuprüfen, wie weit ihre Aussage dem Kern nach wiedergegeben wurde. Auf diese Weise kann mit den Interviews frei manipuliert werden. Der eigentliche »Stolz« der Ausstellung wird zerfleddert. Dem Besucher wird vorgetäuscht, er könne die Zeitzeugen kennenlernen und seine Erinnerungen oder sein Wissen mit jenen vergleichen. So viel zum Thema »Zeitzeugen erinnern sich«.
Zur Ausstellung stellen sich Fragen.
Zunächst zum Thema »Die Charité zwischen Ost und West«. Wieso zwischen? Die Charité lag vollständig auf dem Boden des sowjetischen Sektors von Berlin beziehungsweise der DDR. Sie unterstand der alleinigen Verfügung der Sowjetischen und später der DDR-Organe. Es wurde Ostgeld gezahlt! Der Titel ist schlicht falsch. Bis 1961 kam ein großer Teil der Beschäftigten aus Westberlin. Dann entschieden sie sich überwiegend für West.
Etwas anderes ist es, dass der Westen auf die Charité Einfluß zu gewinnen suchte, zum Beispiel durch Abwerbung von Ärzten, Wissenschaftlern und Absolventen. Bis 1961 verloren Ostberlin und die DDR 7500 Ärzte (Begleitbuch Seite 10). Das war Kalter Krieg gegen die Charité. Die Folgen für die Patienten und die verbleibenden Kollegen interessierten nicht oder waren beabsichtigt.
Die Charité 1945 bis 1992 war bekannt als größter Krankenhausbetrieb der DDR – ein gewaltiger, arbeitender Organismus. Zahlen über Betten, betreute Patienten, ausgebildete Studenten und Beschäftigte, ganz zu schweigen vom heute gefragten »Umsatz«, sucht man vergebens. Das war nicht gewollt, erklärt der Kurator. Wie das? Hatte das Klinikum keine Aufgaben in der Gesundheitsversorgung zu erfüllen? Hatte es keine wissenschaftlichen und medizinischen Kapazitäten, die Ziele in der Forschung und Heilpraxis verfolgten, die in die Welt der Wissenschaft ausstrahlen sollten? Keine Führungspersönlichkeiten, die das Klinikum erweitern und modernisieren wollten? Keine Belegschaft, die die Arbeitsbedingungen verbessern wollte? Keine jungen Mediziner, die sich qualifizieren und bewähren wollten? Welches Selbstbild hatten leistungsbereite, ehrgeizige Ärzte und Wissenschaftler von sich und ihrem Klinikum? In der Ausstellung wird das erklärte führende Zentrum der Medizin der DDR zum bloßen Objekt herabgewürdigt. Einen besonderen Reiz entdeckte jedoch Anna Kaminsky: es war verlockend für die Patienten, in das Hochhaus zu kommen, weil von dort ein Blick in den Westen möglich war.
Weitere Fragen: Welchen Einfluss auf die Entwicklung der Charité hatten Machtwechsel von der Sowjetischen Militäradministration zur Regierung der DDR und innerhalb der Staatsführung von Ulbricht zu Honecker? Welche quantitativen und qualitativen Veränderungen brachte der Hochhaus-Neubau 1977 bis 1980 und der des Chirurgisch-Orientierten Zentrums 1982?
Dem Ausstellungsbesucher wird suggeriert, die SED habe die bürgerlichen Gelehrten als reaktionär und konservativ bekämpft. Als Gegenmittel wären die Ärzte politisch indoktriniert worden, und die Stasi habe durch verstärkte Überwachung eine Atmosphäre von Mißtrauen und Verdächtigungen geschaffen. Den Mitarbeitern wird sogar unterstellt: »Neben dem Zusammengehörigkeitsgefühl und der gegenseitigen Unterstützung gab es ebenso eine Bereitschaft, andere gezielt zu verraten und der repressiven Seite des Systems auszuliefern.«
Kein Gedanke an einen sozialen Strukturwandel, indem die DDR gezielt Arbeiter- und Bauernkinder zum Studium schickte und dass die neue Intelligenz den Sozialismus wollte und bewußt das sozialistische Gesundheitswesen unterstützte. Wollten die in den Westen oder wollten sie die DDR gestalten?
Wissenschaftler und Ärzte der Charité waren in der Nazizeit direkt oder indirekt an Verbrechen im Namen der Medizin beteiligt. Sieben von ihnen wurden im Nürnberger Ärzteprozess angeklagt. Ärzte, Krankenschwestern, Laboranten, Techniker waren gewollt oder ungewollt Mitwisser oder Beteiligte. Welche Konflikte ergaben sich daraus nach der Befreiung? Welche Wirkung hatten Entnazifizierungsverfahren? Die Frage beantwortet Volker Hess, Direktor des Instituts für Medizingeschichte: »Die Verbrechen geschahen außerhalb der Charité.« Eine Lüge. Das Buch »Die Charité im Dritten Reich«, herausgegeben von Wissenschaftlern seines Instituts, liefert zahlreiche Beweise für die direkte und indirekte Beteiligung von führenden Wissenschaftlern der Charité an Medizinverbrechen (Georg Bessau, Walter Stoecker, August Wagner, Hermann Stieve u.a.). Ferdinand Sauerbruch förderte durch seine Gutachten die Menschenversuche Josef Mengeles in Auschwitz. Jeder zweite der Medizinordinarien hatte einen braunen Fleck auf der Weste, wie die Doktorandin Anna-Sabine Ernst feststellte. Belastete kamen weitgehend ohne Konsequenzen davon. In der SBZ wurden Entnazifizierungsmaßnahmen zum Teil außer Kraft gesetzt, um einen Personalnotstand zu vermeiden. Ist dieser widersprüchliche Prozess, der auch zum schweren Anfang nach 1945 gehört, nicht der Erwähnung wert? Auch nicht die Bemühungen, humanistisches Denken in die Lehre der medizinischen Fakultät einzuführen?
Die Komplexität der Entwicklung der Charité wäre nur durch eine analytische Beschreibung darstellbar, aber eben das wollte Hess nicht. Die Zeitzeugen-Interpretation als erlebte Geschichte sollte der Preis für »den Mangel an faktischer Präzision« sein. Wie Insider zu erkennen geben, schlug Hess den Rat von Sachkennern in den Wind. Die Forschung stünde erst am Anfang und in zehn Jahren könne man mit mehr Abstand die Prozesse objektiver darstellen, hieß es in der Presseführung. Mündliche Überlieferungen mögen lebendiger sein als analytische Darstellungen, aber was war die Charité in der DDR, leistungsbereiter und -fähiger Forschungs-, Lehr- und Krankenhausbetrieb oder Objekt politischer und staatlicher Willkür und Indoktrination? Klar war: Eine Erfolgsgeschichte des Krankenhauses und der Fakultät in der DDR durfte nicht herauskommen.
Die Berufung auf unzureichendes Wissen wird deutlich widerlegt durch einen Literaturbericht Sabine Schleiermachers im Begleitbuch – eine Bestandsaufnahme historischer Forschung zur Charité, zum Gesundheitswesen der SBZ und der DDR sowie zum politischen Einfluß der SED und des Staates. Allein die Fragen, die sich aus dem Bericht Schleiermachers ergeben, hätten Grundlage einer umfassenden und ausgewogenen Analyse der Charité 1945 bis 1992 sein können. Als die Entscheidung über die Form der Ausstellung fiel, war genügend Material vorhanden, und Lücken hätten in zielgerichteter Arbeit geschlossen werden können. Das hätten zwanzig Wissenschaftler des Instituts wohl leisten können (Lücken einzuräumen, ist für Wissenschaftler ohnehin keine Schande). Das Ausweichen vor der Komplexität des Themas bleibt ein wissenschaftliches Armutszeugnis.
Was aber wollte man?
Nach Auffassung von Karl Max Einhäupl können Zeitzeugenberichte nicht objektive Geschichte darstellen, aber Einblicke geben. »Man erfährt viel über eine Epoche, die zu verhindern wir ein besonderes Interesse haben.« In der DDR sei die Charité mehr Vorzeigekrankenhaus als Heilstätte und Stätte der Wissenschaft gewesen. Die Abschottung der Wissenschaft in der DDR sei von vornherein ein Hemmnis der Entwicklung der Charité gewesen und habe zum Verlust ihres wissenschaftlichen Ansehens geführt. Nun möge Marianne Birthler helfen, dass die erste Generation nach dem Mauerfall erfahre, was vorher war.
So wird es geschehen. Am 14. Oktober wird es einen gemeinsamen Workshop der Charité und der Bundesbeauftragten für die Stasiunterlagen geben. Thema: Die Charité und das MfS. Birthler unterstützt dieses Vorhaben gern, denn der Forschungsauftrag zur Charité sei einer der derzeit umfangreichsten für ihre Behörde und längst nicht abgeschlossen. 27 500 Blatt Akten wurden bisher gesichtet, 2 500 Kopien übergeben und Auskunft zu 30 Personen erteilt. »Die Stasiakten (sind) eine unverzichtbare Quelle zeitgeschichtlicher Forschung – in manchen Bereichen sogar die einzig verbliebene.« Jedenfalls habe die Charité der Versuchung widerstanden, beim Erinnern nur auf Ruhm und Ehre zu setzen.
Was die Ausstellung leistet, ist nur eine Herabwürdigung der DDR und der Mitarbeiter der Charité.
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Anmerkung:
Erstveröffentlichung in »Ossietzky«, 20/2010