Der erfolgreichste Skilangläufer der Winterspiele 2010 in Vancouver und der WM 2011 in Oslo dürfte das Blatt gegen den Schweizer kaum mehr wenden können. Selbst wenn der 26-jährige Northug, der beste Endspurt- und Siegläufer der Szene, am Samstag die 20 km/klassisch im Finish für sich entscheiden könnte. Am Sonntag ist er bei der 9-km-Kraxeltour auf die Alpe Cermis auf 1275 m Höhe gegenüber dem gleichaltrigen Schweizer, der dann seinen dritten Tour-Erfolg perfekt machen könnte, klar im Nachteil.
Denn der großgewachsene und muskelbepackte Norweger hat eindeutig mehr Gewicht auf den Berganstieg zu tragen. Insgesamt sind 425 Höhenmeter zu überwinden. Beim Anstieg auf den letzten 3,7 km sind Passagen mit bis zu 28 % Prozent Steigung zu überwinden. Der durchschnittliche Anstieg der 9 km beträgt 12 bis 14 Prozent. Zum Vergleich: Die legendäre Bergetappe der Tour de France der Radprofis auf den Alp d’Huez weist eine Steigung von 14,8 % auf. Damit Leute mit schmalen Skatingskiern überhaupt nach oben gelangen können, hat man den Kurs teilweise serpentinenartig schräg auf den Berg gelegt.
Silvio Fauner, Italiens Cheftrainer, ein früherer Weltmeister und Olympiasieger, sagt: "Mit Langlauf im eigentlichen Sinne hat das nichts mehr zu tun. Aber es ist spektakulär für die Zuschauer, Sponsoren und das Fernsehen und daher als Einzelfall im Weltcup zu akzeptieren." Insgesamt 101,15 km Wettkampfkilometer werden die Finalisten hinter sich gebracht haben.
Mit Anforderungen, die den "komplettesten und vielseitigsten Skilangläufer" verlangen: Sprints klassisch und Freistil, Zeit-, Verfolger- und Handicaprennen in beiden Stilarten, Massen- und Einzelstarts. Und wer als Erster oben auf die Alpe Cermis ankommt, ist auch Tour-Gewinner. Belohnt mit 400 Weltcup-Punkten, das Vierfache eines normalen Weltcuprennens. Und einem üppigen Preisgeldanteil aus dem Gesamtetat von 590 000 Euro. Das dürfte nach Lage der Dinge Cologna sein. Kein Lautsprecher wie mitunter Northug, feingliedriger und leichter, eleganter im Laufstil, ausgewogener zwischen Klassisch- und Skatingtechnik und mental stabil und robust. Auch er bereits Olympiasieger und Weltmeister und letztjährig auch Gesamt-Weltcuperster. Ohne olympischen Höhepunkt und ohne Weltmeisterschaften waren die norwegischen Medien, bei denen Langlauf als Wintersport Nummer eins vor Biathlon oder Skispringen gilt, in zahlenmäßig noch nie erlebter Form zum Tourstart angereist. Allein 20 Mitarbeiter des Staatsfernsehens waren in Oberhof angereist. Dazu von Privatsendern, Hörfunk, Printmedien. Es galt, dabei zu sein, wenn der Makel getilgt werden würde, dass Norwegen bisher noch keinen der 10 Gesamtsieger stellen konnte.
Ein Grund war die Norge-Konzentration auf Olympia und WM-Ereignisse. Der Installierung der Tour de Ski stand man skeptisch gegenüber. Obwohl der Schweizer FIS-Rennleiter Jörg Capol zusammen mit dem norwegischen Langlaufhelden Vegard Ulvang die Idee der Tour ausgebrütet hatte. "Ja, wir Norweger sind schwer für Neuerungen zu begeistern", meint Trond Nystad, Herren-Cheftrainer. "Wir sind Traditionalisten. Wir waren bislang im Langlauf gegen die Skating-Technik, gegen Sprintwettbewerbe und gegen die Tour. Aber nun, da es im Winter die sonstigen Highlights nicht gibt, wollen wir endlich auch die Nummer eins bei der Tour stellen."
Möglicherweise erfüllt Marit Björgen diesen Wunsch. Denn sie geht mit einem Minivorsprung von 7 Sekunden in die beiden Restwettbewerbe. Der deutsche Cheftrainer Jochen Behle hat die 31-jährige Björgen, beeindruckt von mehr als 50 Weltcup-Einzelerfolgen, mehreren WM-Titeln und Olympiagoldmedaillen, einmal als die "beste Langläuferin aller Zeiten" geadelt.
Doch Björgen, athletisch und muskulös wie keine andere Konkurrentin, hat mehrmals die Tour wegen der Fokussierung auf Olympia und WM oder Gesamt-Weltcup ausgelassen. Und war lediglich einmal Zweite (2007). Und sie steht nun vor der schweren Aufgabe, gegen die wohl konditionsstärkste Läuferin der Welt den Minivorteil auf den Gipfel der Alpe Cermis zu tragen.
Justyna Kowalczyk aus Polen, auch sie Weltmeisterin, Olympiaerste und Gesamtweltcup-Gewinnerin, kommt das Profil der insgesamt 60,3 Wettkampf-Kilometer der bis heute längsten und härtesten Tour mit neun Etappen binnen elf Tagen entgegen. Das Konditionswunder aus Polen, angeblich mit einem Trainingsprogramm von etwa 10 000 km im Jahr, was sonst wohl nur Männer absolvieren, hat die Tour die beiden letzten Male eindrucksvoll gewonnen.
Sie hat ihre Nachteile gegenüber Björgen in der Skating-Technik deutlich verringert. Und wenn ihr lädiertes Knie die 10 km klassisch am Samstag und die 9-km-Quälerei am Sonntag übersteht, dann wird Björgen auch diesmal nicht als Erste ganz oben landen.