Wer ihre Väter sind, wissen die Jungen nicht. Vielleicht ist Jamies Vater der Mann mit dem Kanarienvogel. Großmutter jagt den Mann fort. Als Jamie einmal nicht im Zimmer ist, schlägt sie auf den Vogelkäfig ein. Seine Mutter lernt Jamie erst kennen, als seine Großmutter sie mit ihm in der Stadt besucht. Die Mutter siecht in einer Irrenanstalt dahin, vor Jamie versteckt sie sich unter der Bettdecke. Eines Tages steht Großmutter nicht mehr auf. Jamie kommt zu anderen Verwandten, „My Ain Folk“, und lernt andere Facetten des Verlorenseins und Elends kennen. „My Way Home“ führt in schließlich zurück. Eine Rückkehr, welche gleichzeitig jene des Regisseurs zu seiner Kindheit und den trüben und schmerzvollen Erinnerungen ist.
Flüchtige Momente der Verbundenheit sind kostbar in dieser verhärteten Welt. Douglas und Jamie sammeln sie wie Schätze: das Zuzwinkern der Großmutter, die sich im Bus schlafend gestellt hat, um keine Fahrkarte lösen zu müssen, der deutsche Kriegsgefangene Helmuth , der Jamie aus einer Fibel vorliest. Manchmal muss man die Unterdrückte Sanftheit in der Unfähigkeit zur Brutalität suchen. Jamies Großmutter schlägt auf das Bauer des Kanarienvogels ein, dem Tier vermag sie nichts anzutun. Die Aufnahmen sind schwarz-weiß gehalten, doch Douglas verzichtet auf kontrastreiche Licht- und Schattenbilder. Die Szenerie verschwimmt in verwaschenem Grau. Verschwommen wie die Erinnerungen an eine freudlose Kindheit, langsam verblassend wie eine alte Fotografie. Aus dem Grau erstehen das schottische Bergarbeiterdorf und die karge Landschaft, in welcher Douglas eine eigentümliche Schönheit findet. In das Grau sinkt alles wieder, als der Zug Jamie aus dem Dorf trägt. Zuerst wollte er in den Tod fliehen. Dann entschließt er sich doch für den Weg in ein unsicheres Leben. Nicht Furcht vor dem Sterben oder Neugier treiben ihn, sondern Wut. Allein hockt er auf dem Zugdach und sieht die ersten Jahre seiner verlorenen Kindheit hinter sich zurückbleiben. Ein Blick zurück im Zorn.
Keine drei Stunden dauert die gesamte Trilogie. Weniger als mancher Langspielfilm, welcher in den vergangenen vierzig Jahren im Forum lief. Die Kürze der „Bill Douglas Trilogie“ trägt zu ihrer emotionalen Eindringlichkeit bei. Seine intensivsten Momente erschafft Bill Douglas aus der inhaltlichen Reduktion und formalen Beschränkung. Kleine Tragödien der Kindheit werden zu schmerzhaften Schnitten in die Seele. Ein toter Kanarienvogel, eine gestohlener Apfel, der als Geschenk gedacht war. Kitsch und Sentimentalität sind dieser Welt fremd, würden sie beflecken und verzerren. Auch von Selbstmitleid spürt man nichts in „My Childhood“, „My Ain Folk“ und „My Way Home“. Nur auf andere, scheint es, vermag Douglas zärtlich zu blicken. Auf die Großmutter, seinen einzigen Freund Helmuth, am zärtlichsten auf die Mutter, die geistig zerrüttet dahinvegetiert.
Am 11. Februar eröffnen „My Childhood“, „My Ain Folk“ und „My Way Home“ das vierzigste Forum der Berlinale im Delphi Filmpalast. Eine kluge Wahl der Kuratoren Bradley Rust Gray und So Yong Kim. Wäre es nicht seine eigene Jugend, könnte man Douglas beinahe Grausamkeit gegenüber sich selbst vorwerfen. Aber es ist seine Jugend, seine Erinnerung. Außer ihr ist ihm nichts von damals geblieben.
Titel: My Childhood
Berlinale Forum
Großbritannien 1972
Genre: Drama
Regie und Drehbuch: Bill Douglas
Darsteller: Stephen Archibald, Hughie Restorick, Jean Taylor-Smith, Karl Fischer
Laufzeit: 48 Minuten
Bewertung: *****
Titel: My Ain Fiolk
Berlinale Forum
Land/ Jahr: Großbritannien 1973
Genre: Drama
Regie und Drehbuch: Bill Douglas
Darsteller: Stephen Archibald, Hughie Restorick, Jean Taylor-Smith, Bernard McKenna
Laufzeit: 55 Minuten
Bewertung: *****
Titel: My Way Home
Berlinale Forum
Land/ Jahr: Großbritannien 1978
Genre: Drama
Regie und Drehbuch: Bill Douglas
Darsteller: Stephen Archibald, Lenox Milne, Jessie Combe,William Carroll
Laufzeit: 71 Minuten
Bewertung: *****