Die Provinz war beim TT 2014 überhaupt nicht vertreten, und die Frauen waren, wie gewohnt, unterrepräsentiert, was allerdings dadurch beschönigt wird, dass Susanne Kennedy mit dem 3sat-Preis ausgezeichnet wurde.
Alljährlich erfüllt das TT Wünsche und enttäuscht Hoffnungen, die sich auf das nächste Theatertreffen richten können. Vielleicht gibt es dann wieder einmal eine Inszenierung von Viktor Bodó oder vielleicht ist endlich einmal eine Inszenierung von Jette Steckel beim Theatertreffen zu erleben.
„Tauberbach“ hätte eigentlich besser ins Programm von „Foreign Affairs“ hineingepasst, denn es ist sehr viel mehr Tanz als Schauspiel. Alain Platel war aber schon einmal zum Theatertreffen eingeladen und seine neueste Arbeit ist eine Produktion der Münchner Kammerspiele. Tanztheater im Rahmen von Schauspielprogrammen zu präsentieren, wie es auch die Berliner Schaubühne erfolgreich praktiziert, bedeutet auch, Schwellenängste abzubauen. Im ihnen vertrauten Schauspielhaus gehen BesucherInnen leichter mal ins Tanztheater, wo sie häufig genug überraschend spannende Geschichten erleben können.
Spannend ist „Tauberbach“ durchaus, auch wenn keine Geschichte erzählt wird, jedenfalls nicht mehr als der Anfang einer Geschichte. Alain Platel gibt zwei Inspirationsquellen für sein Stück an: den Dokumentarfilm „Estamira“ von Marcos Prado über eine Brasilianerin, die seit 20 Jahren auf einer Müllhalde lebt, und ein Videoprojekt des polnischen Künstlers Arthur Zmijewski, der einen Chor Gehörloser Musik von Bach ihren Vorstellungen gemäß singen ließ.
Die Bühne ist bedeckt mit einem Berg von Kleidungsstücken, weggeworfen offensichtlich, aber obwohl das Surren einer Fliege zu hören ist, wirken die Textilien nicht wie stinkende Lumpen. Schmutzig sehen sie nicht aus. Sie erregen keinen Ekel, sondern eher kindliche Lust, darin herumzutoben und sich mit den Hosen, Jacken und Röcken zu verkleiden.
Dieser Abenteuerspielplatz wird bewacht von einer eindrucksvollen Herrscherin. Die wunderbare Schauspielerin Elsie de Brauw ist eine grandiose Regentin in ihrem Reich. Sie spricht eine erfundene Sprache und erteilt auf Englisch Anweisungen, gibt Ratschläge, vermittelt Erkenntnisse und debattiert mit einer dämonisch verzerrten Stimme, die sich über Lautsprecher meldet.
Die Frau hat sich offenbar gut eingerichtet. Sie ist eine Kämpferin und fordert mehr als einen problemlosen Alltag mit ihrer Proklamation: „I do not agree with life“.
Zweifellos ist sie auch einsam und beobachtet misstrauisch und dennoch erwartungsvoll die Wesen, die sich, mit den Beinen voran, aus dem Kleiderhaufen herausarbeiten. Eine Begegnung dieser Wesen mit der Frau, durch das sich das Leben auf diesem Territorium verändern müsste, zeichnet sich ab.
Und dann verläuft alles ganz simpel: Die Kreaturen stürzen sich auf die Frau, zerren sie herum, überwältigen sie und treten auf die am Boden Liegende ein. „Eine befreiende Geste“ nennt Koen Tachelet das in seinem Beitrag im Programmheft. Es ist die Entmachtung einer Königin, und es ist der gewaltsame Sieg des Tanzes über das Schauspiel.
Von der Geschichte der Frau, die gerade erst angefangen hatte, ist nichts mehr zu hören. Die Frau ist nur noch eine Randfigur. In einer Szene hängt sie schlaff wie eine Puppe in den Armen eines Tänzers, der schmatzend mit den Lippen an ihrem Körper entlang fährt, als sauge er sie aus, und schließlich sitzt die einstige Rebellin artig singend mit den Kreaturen im Familienkreis.
Die Frau ist nicht mehr einzigartig, sogar ihre erfundene Sprache wird von den Kreaturen vereinnahmt. Der Dialog zwischen Elsie de Brauw und Bérengère Bodin ist eher Wettkampf als Verständigung. Was die Frau kann, beherrschen auch die TänzerInnen, und die demonstrieren, dass sie sehr viel mehr können als die Frau. Sie dominieren die Szene mit ihren Sprüngen, ihren Verwandlungen, mit ausgelassenen Spielen, sexuellen Annäherungen und beeindruckenden Solo-Szenen. Für die Darbietung, die, beginnend mit Fliegengesumm, zu einer mitreißenden Tanz- und Gesangnummer wird, gab es bei der Premiere Szenenapplaus.
Die Kreaturen mit ihrer Mischung aus Unschuld und Brutalität lassen an die schönen Wilden denken, die weiße EuropäerInnen seit der Entdeckung fremder Erdteile fasziniert haben.
Die TänzerInnen zeichnen schwarze Linien auf ihre Arme und Beine, Schmutz, durch die glänzende Farbe ästhetisiert. Elsie de Brauw bedeckt ihren Mund mit schwarzer Farbe. Die Frau hat ihre Sprache verloren.
Die Musik von Bach ist wie Sonnenstrahlen auf einer farbenfrohen, lebendigen Szenerie. Ohne Vorabinformationen ist nicht erkennbar, dass es sich bei dem begleitenden, fast fröhlichen Radau um einen Chor von Gehörlosen handelt. Menschen, die sich einen ganz eigenen Zugang zu Musik verschaffen, weil ihnen die akustische Wahrnehmung versagt ist, kommen im Stück nicht vor. Platel nutzt lediglich ihren Gesang als Verfremdungseffekt.
Vor der zweiten Vorstellung von „Tauberbach“ gab es eine Demonstration gegen dieses Stück vor dem Haus der Berliner Festspiele und wohl auch heftige Debatten beim Publikumsgespräch.
Seit November 2012 ist im Ballhaus Naunynstraße „Sight“ zu sehen, eine Arbeit des Tanzkollektivs „Grupo Oito“ unter der Regie von Ricardo de Paula, die, ebenso wie „Tauberbach“ auf dem Film „Estamira“ von Marcos Prado basiert.
Unabhängig davon, ob die gegen Alain Platel erhobenen Vorwürfe, u. a. Plagiat, gerechtfertigt sind oder nicht, scheint es mir verständlich, dass Platels Interpretation Empörung hervorruft.
Alain Platel hat Texte von Estamira aus Prados Film übernommen. Aus der schwarzen Brasilianerin hat er eine weiße Europäerin gemacht, und die erscheint lediglich am Anfang des Stücks und geht dann unter in einer sehr schönen, vorwiegend heiteren Tanzkreation, in der auch brutale Gewalt künstlerisch veredelt erscheint. Diese Art Schönheit tut weh.
Auf eine ganz andere Art schmerzhaft war das Gastspiel „Die letzten Zeugen“ vom Burgtheater, Wien, ein Projekt von Doron Rabinovici und Matthias Hartmann.
Am Ende des Stücks, wenn, bei einsetzendem Applaus, das Ensemble auf die Bühne kommt, erhob sich das gesamte Publikum. Es gab keine Bravorufe, die wären unpassend gewesen, nur diesen lang anhaltenden Applaus, in dem sich Respekt, Dankbarkeit und Ergriffenheit ausdrückten. So als eine Gemeinschaft, die sich vor der Menschenwürde verneigt, habe ich noch kein Publikum in Berlin, und wohl auch nicht anderswo, erlebt.
Wie das zustande kommen konnte, lässt sich nicht wirklich erklären. Berichte über den Holocaust, wie an diesem Abend zu hören, gibt es in großer Zahl, dazu Dokumentationen und Spielfilme, in denen mit sentimentaler Musik das Mitgefühl in die ZuschauerInnen hineingegeigt wird.
Matthias Hartmann verzichtet auf effektvolles Beiwerk in seiner Inszenierung, die wie ein sachlicher Dia-Vortrag beginnt. Zunächst gibt es eine kleine Einführung durch den Dramaturgen Andreas Erdmann, und dann treten zwei Schauspielerinnen und zwei Schauspieler des Burgtheaters, Mavie Hörbiger, Dörte Lyssowski, Peter Knaack und Daniel Sträßer abwechselnd ans Rednerpult und lesen aus den Erinnerungen der sechs Holocaust- Überlebenden, die ganz hinten auf der Bühne, hinter einem durchsichtigen Vorhang, sitzen. Ihre Gesichter werden auf eine Leinwand projiziert, auf der auch Fotos aus den 30er-Jahren und, später, aus den KZs erscheinen.
Anfangs wirken diese Gänge ans Pult und die fast emotionslos gelesenen, knappen Texte nahezu hölzern. Es sind nicht die zunehmenden Gräuel in den Berichten, durch die wachsende Intensität entsteht. Vielmehr wird die Verbindung zwischen den ZeugInnen im Hintergrund und den SchauspielerInnen deutlich, die Verantwortung der Nachgeborenen, die Erinnerungen derer, die den Schlachthäusern entkommen sind, zu bewahren und weiterzugeben.
Hinter der Projektionsleinwand zeichnet eine junge Frau die gesprochenen Worte auf einer endlosen Papierrolle auf.
Am Ende holen die SchauspielerInnen die ZeugInnen von ihren Plätzen ab und führen sie, sehr liebevoll, an ein Rednerpult in der Mitte der Bühne. Jede und jeder dieser Frauen und Männer zwischen 80 und 100 Jahren spricht ein paar Worte ins Publikum. Suzanne-Lucienne Rabinovici rezitiert ein Gedicht in jiddischer Sprache, das sie als Zehnjährige im Wilnaer Ghetto geschrieben hat.
Einer der Stühle im Hintergrund war nicht besetzt, markiert mit einem bunten Tuch. Dieser leere Stuhl erinnert an die Romni Ceija Stojka, die im Januar 2013 gestorben ist. Es ist ein sehr bewegender Moment, wenn Mavie Hörbiger dieses Tuch abholt und vorn über das Rednerpult legt, bevor die Malerin, Sängerin und Autorin Ceija Stojka in einer Videoaufnahmes eines der Lieder singt, die sie vor dem Vergessen bewahren wollte.
Die Publikumsgespräche im Anschluss sind Teil der Inszenierung. An drei verschiedenen Orten im Haus der Berliner Festspiele sprachen jeweils zwei der „Letzten Zeugen“ mit einer Moderatorin oder einem Moderator. Ich hätte gern an allen Gesprächen teilgenommen und nahm mir vor, überall ein bisschen zuzuhören. Dieser Plan erwies sich als undurchführbar, denn nachdem ich, eher zufällig, bei Lucia Heilman und Rudolf Gelbard gelandet war, konnte ich meinen Platz dort vor Ende des Gesprächs nicht wieder verlassen.
Meine Befürchtung, dass in dieser Veranstaltung Menschen als erstarrte Mahnmale vorgeführt werden könnten, hatte sich schon vorher zerstreut. Die Begegnung mit diesen beiden ganz unterschiedlichen Persönlichkeiten war ein ebenso erschütterndes wie beglückendes Erlebnis.
Wie die meisten Holocaust-Überlebenden haben auch Lucia Heilman und Rudolf Gelbard die Erinnerungen an die Zeit, in der sie unter Mördern und Folterern leben mussten, lange verdrängt. Die Teilnahme am Projekt des Wiener Burgtheaters bedeutet einen erheblichen Kraftakt für sie.
Als Grund, sich dieser Tortur zu unterziehen, nennt Lucia Heilman ihre Verpflichtung gegenüber dem Künstler Reinhold Duschka, einem Freund ihres Vaters, der Lucia und ihre Mutter in seiner Werkstatt versteckt hat. In Israel wurde Duschka als „Gerechter“ geehrt. In Österreich, wie auch in Deutschland gab es, wie Lucia Heiman hervorhob, keine öffentliche Anerkennung für die wenigen Mutigen, die Menschen vor der Vernichtung durch die Nationalsozialisten gerettet haben.
Auf die Frage, weshalb sie nach dieser schrecklichen Zeit in Wien geblieben sei, geht ein Strahlen von Glückseligkeit von Lucia Heilman aus über die Erinnerung an die Befreiung, die es ihr ermöglichte, wieder unter Menschen zu leben und in die Schule gehen zu dürfen. Eine Entschuldigung von FreundInnen und Bekannten, die Lucia Heilman und ihre Mutter unter dem Einfluss der Nazi-Propaganda gemieden hatten, ist niemals erfolgt.
Rudolf Gelbard erlebt nach seiner Rückkehr aus Theresienstadt antisemitische Drohungen bei einem Kinobesuch. Die Ideen des Nationalsozialismus sind ja, nach seinem Zusammenbruch, nicht über Nacht aus den Köpfen der Menschen verschwunden, auch wenn die angeblich von all den Gräueln gar nichts gewusst haben. Rudolf Gelbard, mit seinem wundervoll trockenen Humor, hat sich der politischen Arbeit verschrieben mit dem Ziel kritisch, aber ohne Hysterie, das Wiederaufleben faschistischen Gedankenguts anzuprangern.
„Die letzten Zeugen“, Lucia Heilman, Vilma Neuwirth, Suzanne-Lucienne Rabinovici, Marko Feingold, Rudolf Gelbard und Ari Rath sind Kostbarkeiten, Menschen, die ermordet werden sollten, denen ihre Würde genommen wurde, und die sich als Überlebende als würdevolle und bereichernde Mitglieder einer oft immer noch feindseligen Gesellschaft erwiesen haben.
Matthias Hartmann hat das Wiederaufleben einer nicht zu bewältigenden Vergangenheit sehr sensibel und eindringlich als ein Kunstwerk gestaltet, in dem die Opfer grauenvollster Verbrechen wieder zu Menschen werden. Kommentare, die in diesem Zusammenhang auf den wegen eines Finanzskandals geschassten Burgtheaterintendanten hinweisen, erscheinen höchst unpassend. Denn was bedeutet das Scheißgeld angesichts dieser Proklamation der Menschenwürde?
Im Rahmen des Theatertreffens waren „Tauberbach“, Münchner Kammerspiele / les ballets C de la B, Gent /NT Gent am 10. und 11. Mai und „Die letzten Zeugen“, Burgtheater, Wien, am 13., 14. und 15. Mai im Haus der Berliner Festspiele zu erleben.