Wien, Österreich (Weltexpress). „Better late than never“ – „besser spät als nie“ – ist eine der beliebtesten Spruchweisheiten der lässigen Engländer. Sie geht zurück auf die Canterbury Tales aus dem Jahr 1387 – und von dort gar auf das Jahr 27 v. Chr., die Sentenz „potiusque sero quam numquam“ im. Für Österreich allerdings hat diese Redewendung eine sehr eigene Bedeutung: Bekanntlich ist diese Nation mit der dunkelsten Phase ihrer Geschichte jahrzehntelang ziemlich nachlässig, oder eher: extrem fahrlässig umgegangen, indem sie sich aus der massiven Verantwortung für die NS-Verbrechen ausklinkte und das Mantra des „Ersten Opfers“ Nazideutschlands selbst österreichischen Diplomaten mit auf den Weg ins Ausland mitgab.
Ein beharrlicher Kämpfer für die Erinnerung
In Wien erfolgte am Dienstag ein Schritt in die richtige Richtung: Bundeskanzler Schallenberg und Nationalratspräsident Sobotka haben die sogenannte „Namensmauer“ für 64 500 im Holocaust brutal ermordete österreichisch-jüdische Frauen, Kinder und Männer eingeweiht. Vor Vertreibung und Ermordung hatten in Österreich 210 000 Juden gelebt. Das Datum – der 9. November – war keineswegs zufällig: der Tag des schrecklichen Novemberpogroms 1938, von den Nazis zynisch als „Kristallnacht“ apostrophiert. Und dass das Denkmal in einem kleinen Park namens „Ostarrichi“ – dem historischen Namen für Österreich – zu stehen kam, war wohl eher ein Zufall, aber ein sinniger, ist doch der Holocaust ein nicht zu tilgender Teil der Geschichte Österreichs geworden.
Der austrokanadische Shoah-Überlebende Kurt Yakov Tutter hatte jahrelang erfolglos für dieses Projekt gekämpft und erst 1938, im Gedenkjahr zum „Anschluss“, fand er Gehör. 1939 war er mit seinen Angehörigen nach Belgien geflohen und konnte vorerst dort unterkommen – doch drei Jahre später wurde die Familie bei einer Razzia aufgegriffen. Die Eltern wurden in Auschwitz ermordet, doch der zwölfjährige Yakuv und seine kleine Schwester wurden von einer belgischen Familie versteckt; er emigrierte später nach Kanada. Jahre später, bei einem Besuch in Belgien, stiess er in der belgischen Gedenkstätte in Anderlecht auf die Namen seiner Eltern. Dies mag ihm den Anstoss zum Projekt gegeben haben, an dessen Realisierung er seither zwei Jahrzehnte lang zäh gearbeitet hatte. Aber auch sonst ist manches in Bewegung gekommen: Als schöne Geste bietet Österreich den Nachkommen der Opfer die Staatsbürgerschaft an. Das Angebot wurde bereits von 6 000 Personen in Anspruch genommen. Und endlich macht man sich auch Gedanken über die Zukunft des Denkmals für den antisemitischen Wiener Bürgermeister Karl Lueger, das große Vorbild Hitlers.
Dass die jüdischen Opfer, welche von den Nazis bewusst entmenscht und, mit eintätowierten KZ-Nummern auf dem Unterarm, gezielt entpersönlicht wurden, nun endlich wieder ihre Namen zurückerhalten, ist entscheidend. Doch dies wäre nicht Österreich, wäre es nicht zugleich zwiespältig: Die Firma „Mörtingerbau“, mit den Fundamenten für die 170 Steintafeln betraut, hatte unter der NS-Herrschaft jüdische Zwangsarbeiter, die in den berüchtigten Todesmärschen aus Ungarn ins „judenreine“ Wien getrieben wurden, mit ihnen Frauen und die „Kinderbrigade“. Ihre Namen figurieren nicht auf den feierlich eingeweihten Gedenktafeln.
Kritische Stimmen
Das Projekt „Gedenkmauer“ stösst bei weitem nicht nur auf Zustimmung. Die „Süddeutsche Zeitung“ bezeichnet den Ort als falsch, die Namen der Opfer als „womöglich fehlerhaft“ und die Architektur einfallslos. Manche Wiener Juden argumentieren, mehr hinter vorgehaltener Hand, dass die Gedenkstätte ausgerechnet vor dem Gebäude der österreichischen Nationalbank erreichtet wurde, bekräftige unterschwellig den alten antisemitischen Konnex „Juden und Geld“. Die Ästhetik des Denkmals gilt in Fachkreisen einhellig als überholt. Die Historikerin Heidemarie Uhl bemerkte dazu mit feiner Ironie, dass dieses Projekt „auf der Richter-Skala der Kunstwerke kein Spitzenreiter“ werden könne. Der Wiener Historiker und Schriftsteller Doron Rabinovici kritisierte, dass die Gedenkstätte nicht auch die Namen der (ebenfalls aus rassistischen Motiven verfolgten und ermordeten) Roma und Sinti aufweise.
Doch eines lässt sich bereits jetzt positiv anmerken: Für manche Nachkommen der Ermordeten, deren Asche in den Krematorien der Todeslager vom Wind verweht wurde und die kein Grab, keine Grabsteine besitzen durften, sind die 170 Steintafeln gleichsam der symbolische und doch konkrete Ersatz für jene inexistenten Grabsteine. Auf ihnen finden sie endlich, in Stein gemeisselt, die Namen ihrer deportierten und bestialisch ermordeten Angehörigen und können sie würdig betrauern. Und die fast 65 000 Namen geben zumindest, im Gegensatz zur kalten Ziffer, eine konkretere Vorstellung davon, was es heisst: Zehntausende, Millionen von Ermordeten.
Anmerkung:
Vorstehender Artikel von Dr. Charles E. Ritterband wurde in „Tacheles“ erstveröffentlicht.