Marco Wilms begibt sich auf historische Spurensuche in EIN TRAUM IN ERDBEERFOLIE. Er möchte die Protagonisten der flippigen DDR-Modeszene finden und sammelt auf dem Weg viel Archivmaterial. Als er seine ehemaligen Freunde (Designer, Fotografen, Models, Frisöre) beisammen hat, inszeniert er mit ihnen eine kleine Modenschau in einer Berliner Wohnung. Nun trägt die Tochter der Designerin Sabine eine Nachbildung der Kleidung aus Erdbeerfolie, die die Mutter Anfang der 80er entwarf. Fernab von Ostalgie vermittelt diese Dokumentation ein unbeschwertes Lebensgefühl und ist insbesondere für Modeopfer sehenswert.
Die PERSPEKTIVE wählte goldrichtig mit ACHTERBAHN das Portrait des Schaustellers Norbert Witte aus. Dieser Hasardeur erwarb nach der Wende den Berliner Vergnügungspark im Plänterwald. Als er zehn Jahre danach vor den Schulden nach Lima floh, riss er seine Familie mit ins Verderben. Können Ex-Frau und Tochter das Ruder wieder herumreißen? Peter Dörfler erzeugt Spannung und Mitgefühl mit seinem Film, in dem es auf und ab geht. Auch im FORUM gab es Dokumentationen. LETTERS TO THE PRESIDENT präsentiert die fanatisierte und indoktrinierte Landbevölkerung Irans mit dazugehöriger Propaganda. Der Film wühlt sich in die Armut und Misere Ungebildeter und lässt nur vereinzelt Kritik am System von Stadtmenschen aufscheinen. Menschen mit Problemen schreiben dem Präsidenten Briefe und bitten um Hilfe. Zur Bearbeitung dieser Bittbriefe wurde eine spezielle Behörde geschaffen. Kaum jemand bekommt natürlich die erwünschte Hilfe oder Antwort. Man betrachtet sich die Iraner und geht verängstigt aus dem Kino; bestärkt in dem Glauben an die Gefahr, die von Muslimen ausgeht. Das war bestimmt nicht die Absicht Regisseur Petr Loms.
In DEFAMATION versucht Yoav Shamir aus Israel zu erforschen, wie es derzeit um den Antisemitismus steht. Dabei fliegt er um die Welt und begleitet auch eine Gruppe israelischer Jugendlicher auf ihrer Pflichtreise nach Auschwitz. Viele von ihnen beginnen ganz unmotiviert, können sich das Grauen nicht vorstellen, bis sie die Sammlung von Kleidung im KZ sehen und in Tränen ausbrechen. Gleichzeitig wird ihnen Angst vor Polen und Deutschen gemacht. Weiterhin trifft Shamir amerikanische Professoren mit kontroverser Meinung, Journalisten, fragt in New York nach bei Schwarzen auf der Straße. Er begleitet mächtige jüdische Meinungsmacher der ADL (Anti-Defamation League) zu ihren Treffen mit Politikern und kann in Gesprächen viele Seiten dieses Themas beleuchten. Sein Film birgt einigen politischen Sprengstoff und ist sehr unterhaltsam. Man kann sich am Ende seine eigene Meinung bilden.
In der Sektion GENERATION misslang mit TEENAGE RESPONSE der Versuch, einen Dokumentarfilm an das junge Publikum zu bringen. Die 156 Minuten, in denen Berliner Jugendliche von ihrem teils belanglosen Leben vor hübschen Hintergrundbildern plaudern, hätte man lieber unterhaltsamer verbracht. Zwar gibt es darin Lichtblicke, die aber keinesfalls die Länge rechtfertigen. Das Zielpublikum bestand hier eindeutig nur aus der griechische Filmerin und den Altersgenossen der Interviewten. Im WETTBEWERB hingegen, der in der Rubrik Kultur.Kino des Weltexpress ausführlich besprochen wurde, kommen mit DEUTSCHLAND 09 gleich dreizehn Regisseure zu Wort, die sich in Kurzfilmen teils essayistisch, teils fiktiv mit der Lage der Nation befassen. Angefangen von Naturbildern, Stimmungsaufhellern und schlichten Betrachtungen der Architektur arbeiten sich die Filmemacher über Familiengeschichten, Armut und Migrantenthemen bis zum Gesundheitswesen und Überwachungsstaat vor. Schüler probieren Demokratie im Unterricht und lernen, dass man sich besser nicht zu Wort meldet, weil man sonst überstimmt wird. Tom Tykwer schickt Benno Fürmann in Trance auf eine Weltreise durch Hotels, Besprechungen und Coffeeshops. FEIERLICH REIST zeichnet sich durch den ungeheuren Aufwand, die witzige Idee und den knackigen Schnitt aus. Der großartige Josef Bierbichler darf in FRAKTUR einen Industriellen spielen, der in seiner Zeitung FAZ die gewohnte Schriftart vermisst. Er kauft kurzerhand den Gesamtbestand der Tagesauflage auf und schickt sie zum Verlag zurück. In der Redaktion schafft er dann sogar persönlich seinem Unmut Gehör.
Bleiben wir noch ein wenig beim WETTBEWERB, dessen meiste Filme im Weltexpress ausführlich besprochen wurden, wenden uns nun aber den Spielfilmen zu. Tom Tykwers teurer Actionthriller THE INTERNATIONAL eröffnete das Festival. Armin Müller-Stahl hat darin einige schöne Szenen, Clive Owen hetzt um die Welt, um ein Bankenkomplott mit Waffenhandel aufzudecken. Dabei darf er in einer Schießerei das in Babelsberg nachgebaute Guggenheim Museum in New York zerstören. Naomi Watts ist anfangs auch mit von der Partie. Ansonsten wirkt die Geschichte etwas belanglos und zitiert nur aus dem Genre, wenngleich sich der Regisseur darin sonnt, die Finanzkrise vorhergesehen zu haben. Der Film floppte bereits in Amerika.
Was hat es nun mit dem Mammut auf sich? Lukas Moodysson erzählt in MAMMOTH die Geschichte einer neureichen Familie aus New York. Während der Vater, gespielt von Gael García Bernal, in Thailand darauf wartet, einen Millionendeal seiner Videospielfirma mit einem Mammutelfenbeinfüllhalter zu unterschreiben, hütet eine philippinische Tagesmutter seine Tochter, da die leibliche Mutter als Chirurgin in der Notaufnahme arbeitet und keine Zeit für ihr Kind hat. Die Tochter lernt dann einfach auch mal Tagalog von der Nanny, was der Mutter missfällt. Die Söhne der Tagesmutter versuchen derweil auf den Philippinen, Geld zu verdienen, damit die Mutter heimkommt. Das hat dramatische Konsequenzen. Bernal schläft schließlich doch noch mit einer Prostituierten in Thailand, obwohl er sich lange dagegen wehrt. Die Kritikerkollegen ließen kaum ein gutes Haar an dem sehr verträumt gemachten Film, dessen Weltwehmut aber ganz passabel transportiert wird von Bildern und Musik. Ein sehr poppiges Lied durchzieht den Streifen und weckt uns oft. Offenbar ging es dem Regisseur um Globalisierungskritik. Wie in Hunderten anderer Filme auch, gäbe es die Problemkonstellation ohne die Kinder gar nicht. Also schlussfolgert man: Schafft euch bloß keine Kinder an! Die machen mehr Probleme, als ihr verkraften könnt. Dann hätte man auch gleich das akute und wichtigste Menschheitsproblem der Überbevölkerung abgehakt. MAMMOTH endet aber in einer weichgezeichneten Familienidylle.
Ein Dorf in Ungarn. KATALIN VARGA hat auch einen Sohn. Allerdings ist er das Resultat einer Vergewaltigung. Das wusste niemand, bis Katalin es einer Freundin beichtet. Bevor der Sohn es im Dorf hört, daß sein Vater gar nicht sein biologischer Vater ist, beschließt Katalin, mit ihm zu verreisen. Unter dem Vorwand, die Oma besuchen zu wollen, fährt Katalin also im Pferdewagen durchs Land. Sie findet auch ihre Vergewaltiger und rächt sich. Irgendwann sind ihr aber deren Verwandte auf den Fersen. Peter Strickland hat mit wenig Mitteln und tollen Landschaftsbildern ein fesselndes Drama um Schuld und Schande geschaffen. Intensives Schauspiel und drastische Taten zeigen uns die Aufarbeitung eines Traumas. Daumen hoch.
2009 ist eindeutig das Jahr des Triumphs für Kate Winslet. Sie sahnt die begehrtesten Filmpreise ab für ihre Rolle in DER VORLESER. Der Oscar macht sich auf dem Regal neben ihrem Golden Globe und dem BAFTA bestimmt gut. Über diesen Film um eine Analphabetin und die Sexszenen mit David Kross ist schon ausgiebig berichtet worden. Dass die Berlinale diese deutsch-amerikanische Koproduktion im Programm hatte, darf kaum verwundern. Bruno Ganz spielt einen Professor ganz souverän. Das Leben eines Mannes und die Schuld einer KZ-Aufseherin werden erzählt. Bemerkenswert ist auch Ralph Fiennes, der sich schauspielerisch an seine jüngere Vorlage von David Kross anpasst. Normalerweisen imitieren in solchen Lebensrückblicken die jüngeren Schauspieler die älteren. Die Produktionsdesigner gaben sich viel Mühe, verschiedene Jahrzehnte mit ihren Moden, Architekturen, Lebensweisen und Ereignissen wiederzuerwecken. DER VORLESER ist eine grundsolide Arbeit, die dramatische und erotische Komponenten anbietet. Ein weiterer Ziegel im Gebäude der Aufarbeitung der Nazizeit.
Das Überbringen von Todesnachrichten an die Hinterbliebenen obliegt beim amerikanischen Militär besonderen Offizieren. Dem jungen Versehrten Will (Ben Foster) wird in THE MESSENGER für diese Aufgabe der erfahrene Captain Tony Stone (Woody Harrelson) als Mentor an die Seite gestellt. Dieser ist ein Raubein und Chauvinist, dessen Ratschläge oft weise, aber manchmal unsensibel sind. Harrelsons Schauspiel hat Applaus verdient. Wills Freundin verlässt ihn kurz vor seinem Ausscheiden aus der Armee, aber die extrem gefasste Reaktion der jungen Witwe Olivia (Samantha Morton) fasziniert unseren Hiobsbotschafter. Er freundet sich mit ihr an. Die emotional beste Szene des Films ist eine lange, intensive, ungeschnittene Sequenz in der Küche, in der sich die beiden sehr nahe kommen, aber plötzlich innehalten und alles besprechen können.
Für das sensible Drehbuch von Oren Moverman und Alessandro Camon spendierte die Berlinale-Jury um Tilda Swinton einen Silbernen Bären.
Lesen Sie im Teil 3 über die Nebenprogramme und das Fazit!