Aus dem Fenster geschaut – Die Biennale Alter Musik im Konzerthaus verspricht musikalische Kostbarkeiten

Im Eröffnungskonzert am Sonntag wird die Akademie für Alte Musik unter Leitung von Christopher Moulds Ausschnitte aus der Oper »Der gestürzte und wieder erhöhte Nebukadnezar, König zu Babylon« (1704) von Reinhard Keiser sowie aus »Germanicus« (römischer Feldherr) und »Gensericus« (der Vandalenkönig, der Rom überrannte) von Georg Philipp Telemann präsentieren. Die Namen der rennomiertesten Opernkomponisten ihrer Zeit versprechen großartige Musik mit großen Emotionen, dargeboten von der Sopranistin Roberta Invernizzi, dem Countertenor Tim Mead und dem Bariton Dietrich Henschel. Wer mehr über die Philosophie der Fallstudien wissen will, kann es in einem Einführungsvortrag der Journalistin Carolin Emcke um 19.15 Uhr im Beethovensaal hören.

Eine Berliner Erstaufführung bringt die Oper »Dido« von Christoph Graupner, wiederentdeckt von Jörg Jacobi in der Berliner Staatsbibliothek. Sie erzählt die antike Geschichte von Aeneas und Dido in einer überraschend heiteren Version, vielleicht die Art Verfremdung jener Zeit. Die Oper wurde 1707 am Hamburger Gänsemarkt-Theater uraufgeführt, einem musikalischen Zentrum, das nicht von einem Fürstenhof, sondern von einer bürgerlichen Gesellschaft beherrscht wurde – bereits damals mit Hamburger Banken als Sponsoren im Hintergrund (die in einer Finanzkrise auch das Theater mit in den Abgrund zogen).Christoph Graupner, Johann Mattheson, Georg Friedrich Händel und Reinhard Keiser stellten an der Gänsemarkt-Oper eine Gruppe junger Genies dar, die einander an Ideen übertrafen. Im übrigen wurden in Hamburg Opern bevorzugt in deutscher Sprache gesungen. Graupners Rang in der Musikwelt wird schon daran kenntlich, dass er 1723 Johann Sebastian Bach als Thomaskantor vorgezogen worden wäre, hätte ihn nicht sein Darmstädter Dienstherr gehindert, nach Leipzig zu gehen. 2010 wird sein 250. Todestag begangen.

Weitere »Fälle« sind »Rheingold«, nicht von Richard Wagner, sondern von dem Mittelalter-Spezialisten Benjamin Bagby rekonstruiert aus Quellen wie der Island-Saga »Edda« (Dienstag, 13. April), »Schicksalsmusik«, in der Verdis »Macht des Schicksals« von einem zeitgenössischen schwedischen Stück für Vokalensemble und tickende Metronome kontrastiert wird (Mittwoch, 14. April), die »Schlangengrube« Rom (man erinnert sich: die spätrömische Dekadenz) mit Schlagern aus Händels Oper »Giulio Cesare« und aus der Vivaldi-Oper »Tito Manlio«, gespielt von der Accademia Bizantina und gesungen von Nuria Rial, Sopran, garniert mit gepfefferter italienischer Instrumentalmusik. Alles erschröcklich-komische Geschichten, die Stoff zur Satire liefern. Und wie würden die Wände wackeln, wenn die heutigen Librettisten so weit wären, auch Fallstudien etwa von Richard Nixon, Helmut Kohl, Kurt Beck oder Boris Jelzin und Michail Gorbatschow zu dramatisieren oder alte und neue Fälle zu klittern.

Doch weiter im Programm: Alte und neue Musik im Dialog mit Uraufführungen von Sven-Ingo Koch, Klaus Lang und Michael Wertmüller spielen die Kammerensembles Alte Musik und Neue Musik unter Leitung von Titus Engel im »Radialsystem« nahe dem Ostbahnhof (Montag 20 Uhr und Dienstag 21 Uhr).

Die Delikatessen der Biennale dürften die Konzerte auf der Viola da Gamba, dem Instrument der Könige, sein. Die Meister Jordi Savall und Hille Perl sowie Lee Santana auf der Laute werden am Dienstag und Mittwoch im Kleinen Saal mit intimer Solomusik aufwarten. Und am Donnerstag: Paolo Pandolfo, Gamba, und Mitzi Meyerson, Cembalo, spielen Bach! Jeweils 18 Uhr. Hille Perl, Paolo Pandolfo und Jordi Savall gelten als die bedeutendsten Virtuosen auf der »Kniegeige«.

Nach gutem Konzerthaus-Brauch gibt es am Samstag, dem 17. April, von 19 Uhr bis Mitternacht in allen Sälen eine Renaissance-Nacht mit 20 Künstlern aus sechs Nationen. Volksfestcharakter soll auch der traditionelle Kindernachmittag für die ganze Familie am 10. April ab 14 Uhr haben. Jugendfrei, aber nicht kostenfrei. Eltern mit zwei Kindern zahlen 34 Euro. Die drin sind, sind glücklich, die draußen bleiben, sieht man nicht. Vorbei die Zeiten des großen Frühlingsliedersingens von jung und alt bei freiem Eintritt. Der Intendant Sebastian Nordmann fände eine Neuauflage schön. Aber eigentlich seien dafür die Chöre zuständig. Und die unterstehen nicht dem Konzerthaus.

Informationen: www.zeitfenster.net. Kartenbestellungen: 030 20309-2101

Erstveröffentlichung in junge Welt vom 10./11.4.2010.

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