Aufstieg ins Nichts – Michael Thalheimer inszeniert „Die Weber“ mit großartigem Schauspielensemble am Deutschen Theater

Michael Thalheimers Inszenierung macht die hoffnungslose Situation der schlesischen Weber auf erschütternde Weise deutlich.

Olaf Altmann hat die Bühne in eine riesige steile Treppe verwandelt, Symbol für die Hierarchie, auf deren unterster Stufe sich zu Beginn die Weber befinden, von Michaela Barth mit zerlumpter, schmutziger Kleidung ausgestattet. Auf halber Höhe agiert Moritz Grove als Expedient Pfeifer, zuständig für die Auszahlung der Hungerlöhne und die Ablehnung der Bitten um Vorschüsse.

Groves Pfeifer, in weißem Hemd mit Krawatte, ist sichtlich überfordert mit seiner undankbaren Aufgabe. Er fürchtet sich vor den protestierenden Webern, ekelt sich vor ihrer Unsauberkeit, und als sie bedrohlich die Stufen hinauf drängen, flieht Pfeifer nach oben, um den Abstand zwischen sich und dem Pöbel zu wahren.

Ganz anders Pfeifers Chef, Fabrikant Dreißiger, dessen Erscheinen auf der obersten Treppenstufe die Ordnung sofort wieder herstellt. Dreißiger gibt sich volksnah. Ingo Hülsmann steigt leichtfüßig die Treppe hinunter und gesellt sich ohne Berührungsängste zu seinen Webern.

Gerhart Hauptmann charakterisiert Dreißiger als „Junger Vierziger. Fettleibig, asthmatisch“, Prototyp des ausbeuterischen Unternehmers also, dem Hauptmann auch einen menschenverachtenden, verlogenen Text auf den Leib geschrieben hat.

Ingo Hülsmann ist schlank, gut aussehend, wirkt sympathisch, und es gelingt ihm, in Dreißigers Worten ganz überzeugend so etwas wie Menschlichkeit, Anteilnahme und Fürsorglichkeit mitschwingen zu lassen.

Das tut weh, denn als Zuschauerin möchte ich selbstverständlich den Ausbeuter hassen und mit den armen Webern mitleiden und mich von ihrem Aufstand mitreißen lassen.

Die Weber in Thalheimers Inszenierung sind aber Wesen aus einer ganz anderen Welt, die sich meinem emotionalen Zugriff entziehen. Schon ihre unbeholfene Sprache, Hauptmanns Schlesisch wie es im Buche steht, lässt die Weber fremd erscheinen. Sie sprechen und schreien in Richtung Publikum, jedoch über die Köpfe der Menschen hinweg ins Leere.

Diese Weber sind so weit weg wie die Menschen in den Ländern der Dritten Welt, die für Hungerlöhne unsere billigen T-Shirts wie auch die teuren Markenturnschuhe anfertigen und die ihre Kinder zur Arbeit in die Kaffee- und Kakao-Plantagen schicken, weil sie sonst nicht überleben könnten.

Die Weber auf der Bühne des Deutschen Theaters sind eine geschlossene Gemeinschaft von Menschen, die ihr Elend beklagen, ohne auf Hilfe zu hoffen. Verachtete Außenseiter sind sie, wie sich in der Wirtshausszene zeigt. Dort sitzt Michael Schweighöfer als Schmied Wittig auf der obersten Treppenstufe wie ein grollender Donnergott, ein Aufrührer, vor dem sich sogar die Polizei fürchtet.

Mit den erbärmlichen Webern aber möchte Wittig nicht gemeinsame Sache machen. Wie der Schmied verspotten auch die anderen Gäste die Hungerleider, die jetzt in Not sind, weil sie zu Zeiten, als es ihnen besser ging, alles  versoffen und verspielt haben.

Tatsächlich wirken die Weber schuldbewusst. Wenn sie aufmucken und sich beklagen, schrecken sie sofort wieder zurück, als hätten sie kein Recht, sich zu wehren. Aber dann erscheint einer, der sich ihrer Sache annimmt: Moritz Jäger (Norman Hacker), Kind einer Weberfamilie, das zu ungeschickt und zu faul war, um das Handwerk auszuüben. Moritz ist zum Militär gegangen, wo er sich durch Diensteifer und Unterwürfigkeit auszeichnen konnte. Jetzt, als bestaunter Heimkehrer, beweist Jäger, dass er nicht nur Befehlsempfänger, sondern auch Feldherr sein kann. Er stachelt die Weber zum Aufstand an, lässt die Schnapsflasche herumgehen und brüllt mit ihnen „Das Lied vom Blutgericht“.

Gesungen wird nicht in dieser Inszenierung. Michael Thalheimer hat alles vermieden, was nach Begeisterung klingen könnte. Der Aufstand ist eine von Anfang an verlorene Sache. Das wissen auch die Weber, nur haben sie eben nichts mehr zu verlieren. Den Tod fürchten sie nicht, und schon gar nicht das Zuchthaus, denn „da kriegt ma wenigstens satt Brot“, wie der rote Bäcker (Peter Moltzen) sagt. Bäcker, den Kopf voller krauser revolutionärer Ideen, schreit seinen lang angestauten Zorn heraus.

Auch der alte Baumert (Sven Lehmann), ein trauriger, resignierter Mann, wird auf einmal laut. Alles, was er demütig hingenommen und heruntergeschluckt hat, scheint aus ihm herauszubrechen in einem verzweifelten, erschreckenden Brüllen.

Am zornigsten schreit Moritz Jäger. Norman Hackers Gesicht zieht sich zu einer bösartigen Maske zusammen. Jäger genießt seine Macht als Rädelsführer. Er hat mit allen ein Hühnchen zu rupfen, mit den Ausbeutern ebenso wie mit den Webern, die er aufmischt und denen er nun endlich beweisen kann, was er für ein toller Kerl ist.

Dreißiger bringt sich mit seiner Familie in Sicherheit bevor die Weber anrücken und seine Villa demolieren. Der Fabrikant versteht die Welt nicht mehr und würde die Bedrohung gar nicht ernst nehmen, wenn der vor Angst schlotternde Pfeifer ihm nicht die Hölle heiß machte.

Noch viel überraschter als ihr Mann ist Frau Dreißiger (Isabel Schosnig). Sie lebt, vor allen Widrigkeiten geschützt, in ihrer luxuriösen Häuslichkeit und weiß nichts von den Menschen, die nicht zu ihrem gesellschaftlichen Umgang gehören. Immerhin überlegt sie, dass sie vielleicht besser in den kleinen Verhältnissen, denen sie entstammt, geblieben wäre, nachdem der Wohlstand sich nun als so gefährlich erwiesen hat.

Die Webersfrauen genießen keinen Schutz. Sie arbeiten oft noch härter als ihre Männer. Mit dem Mut der Verzweiflung fährt Gabriele Heinz als Frau Heinrich zu Beginn auf Pfeifer los und verlangt Vorschuss. Dreißiger gegenüber jedoch fällt ihre Entschlossenheit zusammen. Es ist traurig, anzusehen, wie die alte Frau, die vorher so rebellisch die Stufen hinauf gestürmt ist, hinter dem Fabrikanten her kriecht, um ein Stäubchen wegzuwischen, das bei Dreißigers Abstieg zu den Webern an seine elegante Hose geraten ist.

Luise Hilse (Katrin Wichmann) dagegen lässt sich nicht einschüchtern. Sie hat ihre Kinder sterben sehen, weil es ihr nicht gelungen ist, ihnen etwas zu Essen zu verschaffen. Jetzt will sie es den Ausbeutern heimzahlen. Sie schließt sich den Aufständischen an.

Der erschütternde Ausbruch dieser jungen Frau kurz vor Schluss des Stücks bringt die Qual der leidenden Menschen ganz nah und durchbricht die Distanz zwischen ihnen und dem Publikum.

Das Schauspielensemble ist in dieser Inszenierung grandios in seinem präzisen Zusammenspiel, bei dem jeder Ton und jede Geste wie bei einer musikalischen Komposition auf einander eingestimmt sind.

Das Stück geht leise zu Ende. Die betrunkenen Weber sind über die Bühne getorkelt, der Lumpensammler Hornig (Paul Schröder) hat verständnisvoll aber distanziert von den Ausschreitungen der Aufständischen berichtet, und der alte Hilse (Jürgen Huth), ein frommer Mann, der die Abrechnung mit den korrupten Mächtigen Gott überlassen will, sitzt wie gewohnt auf seinem Platz am Fenster, während die Welt, die ihm vertraut ist, zu Grunde geht, und mit ihr auch der alte Mann.

Der Aufstand hat kein Übel beseitigt. Armut und Elend gibt es immer noch. Die Dreißigers konnten ihre Haut retten, gehen nach dem Theater vielleicht irgendwo Kaffee trinken, der von Kindern geerntet wurde.

„Die Weber“ von Gerhart Hauptmann hatten am 20.01. Premiere im Deutschen Theater. Nächste Vorstellungen: 03. und 20.02.2011.

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