Auf Wiedersehen, Eltern – Ounie Lecomte erzählt von Abschied und der Hoffnung auf „A Brand new Home“ bei Berlinale Generations

Bis zum Hals gräbt Jinhee sich ein, dann häuft sie Hände voll Erde über ihr Gesicht. Tod sein und immer einen Ort haben, an den sie gehört. Die anderen verlassen, bevor sie verlassen werden kann, hat für das kleine Mädchen etwas tröstliches. Adoptiert zu werden ist der große Wunsch der Waisen. Einige von ihnen haben Glück. Sie werden von neuen Eltern aufgenommen und beginnen „A brand new Life“. Andere wie die gehbehinderte Yeshin müssen bleiben. Höchstens als billige Arbeitskräfte werden Mädchen wie Yeshin bei Familien aufgenommen. Die Angst vor solch einem elenden, lieblosen Dasein ist die unsichtbare Begleiterin der Trauer. An ihrem ersten Tag versucht Jinhee, über das Gittertor in der Mauer zu klettern, welche das Heim umgibt. Jahre später wird sie wieder mit einer Mischung aus Unsicherheit und Sehnsucht auf das Gittertor blicken. Dann wird es sich nicht vor ihr schließen, sondern hinter ihr.

Das Erleben von Verlust steht im Zentrum von Ounie Lecomtes feinfühligem Drama. An „A brand new Life“ müssen die jungen Figuren sich mehrfach gewöhnen. Kaum hat Jinhee begonnen, die Trennung von ihrem Zuhause zu überwinden, wird sie ihrem neuen Umfeld entrissen. War beim ersten mal sie diejenige, die an einem unbekannten Ort zurück gelassen wurde, muss sie nun die anderen zurücklassen. Die fundamentale Erfahrung des Verlusts des Zuhause beginnt und endet jedes der neuen Leben. Kleine Abschiede begleiten den Alltag der Kinder im Heim. Ein verwundeter Vogel, den Jinhee und ihre Freundin Sookhee gesund pflegen wollen, stirbt. Ihre Gefährtin Yeshin muss das Heim verlassen, um als Dienstmädchen zu arbeiten. Das Leben der Waisen gleicht einer Kette von Verlusten. Für Yeshin mündet es auch in den Verlust ihrer Hoffnungen, beinah sogar den ihres Lebens. „A brand new Life“ wartet nur auf wenige der Mädchen. Sookhee ahnt, dass Yeshins Schicksal ihnen allen droht. Fast verzweifelt wirkt es, wie sie sich bei ihren potentiellen Pflegeeltern einschmeichelt, um adoptiert zu werden.

„Warum hast du mir nichts gesagt?“, fragt die kleine Jinhee die Ärztin, welche ihr versprochen hatte, sie vor dem Spritzeneinstich bei der Blutabnahme zu warnen. „Du hast es versprochen.“ In kleinen Momenten wie diesem vermittelt Lecomte den vergeblichen Versuch ihrer Hauptfigur auf neuen Schmerz vorbereitet zu sein. „A brand new Life“ kommt ohne schwermütige Dialoge aus. Das sensible Drama bedient sich der Sprache des Gefühls. Mehr als die Spritze schmerzt Jinhee der Vertrauensbruch. Das Verhalten der Ärztin spiegelt das von Jinhees Vater. Den meisten Schmerz verursachen die Erwachsenen in „A brand new Life“ den Kindern, weil sie deren Gefühle als bedeutungslos empfinden. „Es war doch nichts.“, behauptet die Ärztin währen sie die Spritze mit Blut vollzieht. Erwachsenen kann man nicht vertrauen. Sie sagen, sie würden wiederkehren und gehen für immer. Wie Jinhees Vater. Nur auf die andern Mädchen in dem Kinderheim ist Verlass. Gleich Schatten aus Lecomtes eigener Vergangenheit geistern die Figuren durch die kalten, fahlen Szenen. Ihre eigenen Kindheitserfahrungen inspirierten die Regisseurin zu „A brand new Life“. Produziert wurde das Debüt von Lee Changdong, Regisseur des bewegenden Dramas „Secret Sunshine“. „Es ist eine einfache Geschichte, aber sie umfasst vieles.“, sagte er über Lecomtes Kinderfilm. Vieles, was zu selten im Kino zu sehen ist und so berührt wie „A brand new Life“.

Titel: A brand new Life

Berlinale Generations

Land/ Jahr: Korea 2009

Genre: Drama

Regie und Drehbuch: Ounie Lecomte

Darsteller: Kim Saeron, Park Doyeon, Ko A-Sung, Park Myungshin

Laufzeit: 92 Minuten

Bewertung: ****

Vorheriger ArtikelBilder, die lügen: Yael Hersonski berichtet in „Shtikat Haarchion – A Film unfinished“ von einem vergessen Propagandawerk der Nazizeit
Nächster ArtikelIm Krebsgang – Der Krabbenkutter war ihr Schicksal: Sabus sozialpolitische Groteske „Kanikosen“ im Berlinale Forum