Stralsund, Deutschland; Murmansk, Russland (Weltexpress). Bernd Menger und der Verfasser haben eine gemeinsame „atomare“ Vergangenheit: er 15 Jahre in Murmansk, der Autor vier Wochen auf dem 75.000 PS-Nukleareisbrecher „Rossija“, mit dem er als erster westlicher Journalist 1990 den Nordpol erreicht hat. Deswegen strahlen beide so, vielleicht auch, weil sie in Stralsund leben, das manche Auswärtige – aus Unwissenheit – mit „h“ in der Mitte schreiben.
Von dem Spezialisten und Hobby-Segler mit familiären Wurzeln in Ostpreußen und sächsischem Geburtsort Wurzen hört man Erstaunliches über das Projekt. Dafür war der ehemalige Marinesoldat, Diplomingenieur für Elektronik von 2004 bis 2018 im Einsatz, nachdem er an der Universität Rostock Kybernetik und Bauwesen studierte, beim VEB Geräte- und Reglerwerk Teltow gearbeitet und zuvor Motorenschlosser gelernt hatte. Nach der Wende und verschiedenen anderen Großprojekten in der Region war er bei den Energiewerken Nord (EWN) in Lubmin beschäftigt. Danach wurde das Atomkraftwerk abgeschaltet und die EWN bot ihre Dienste an, fortan als Entsorgungswerk für Nuklearanlagen sehr praktisch unter demselben Kürzel firmierend, das eigene AKW zu entsorgen. „Damit haben wir uns ein Knowhow geschaffen“, so Menger, „womit wir das einzige Unternehmen weltweit waren, einen AKW-Rückbau unter ökonomischen Bedingungen zu leisten. Das kam uns in der Folgezeit äußerst zugute“.
Tickende Zeitbomben
2002 wurde nämlich auf dem G 8-Gipfel in Kananaskis Village in Kanada beschlossen, die Welt gemeinsam vor einer Umweltkatastrophe zu bewahren. In den Buchten an der Barentssee und auf der Insel Nowaja Zemlja rostete das strahlende Erbe des Kalten Krieges vor sich hin: gewaltige U-Boote, die nicht nur Nuklearwaffen trugen, sondern auch von Atomreaktoren angetrieben wurden. Erschreckende Zeitbomben, die ich während der Eisbrecher-Reise selber gesehen habe. Wobei damals noch sehr sorglos mit dem Abfall umgegangen wurde: in Container gepackt und versenkt, auch komplette atomar angetriebene Schiffe. Norwegen, dessen Fanggründe in der Barentssee liegen, war empört und drängte auf ein sofortiges Ende dieser unheilvollen Praxis sowie ein Bergungskonzept. Russland war damit technisch und finanziell überfordert, 150 Reaktorsektionen von U-Booten und 25 von Serviceschiffen der russischen Nordmeerflotte zu entsorgen und den verstrahlten Restmüll sicher zu lagern. Außerdem mussten 17 belastete Schiffswracks in der Saida-Bucht gehoben werden. Die G 8-Chefs bewilligten dafür insgesamt 15 Milliarden US-Dollar, davon die Bundesrepublik Deutschland allein 1,5 Milliarden. Das Bundeswirtschaftsministerium (BMWi) war denn auch der Auftraggeber für EWN.
Menschliche und politische Hürden
Hier war die EWN gefordert, zumal sie auf ihrem neuen Gebiet ein absolutes Monopol hatten. „Wie die andere Marinen ihre atomar betriebenen Schiffe entsorgen, das habe ich bisher noch nicht erfahren“, meint Menger, „beunruhigend ist das schon“. Russland habe den insgesamt 20 involvierten Firmenangehörigen aus Mecklenburg-Vorpommern, und nur denen, in ihrem Sperrgebiet volle Bewegungsfreiheit garantiert, „auch wenn man unseren Kontrollen anfangs restriktiv begegnete“. Schließlich ist das Moskauer Kurtschatow-Institut, das die sowjetische A-Bombe entwickelte, mit ins Boot geholt worden. „Sprachlich gab es keine Probleme“, erinnert sich Bernd Menger, „weil wir Deutschen aus der ehemaligen DDR Russisch konnten und auf Speziallehrgängen in Leningrad und Odessa weiter getrimmt wurden“. Damit konnten auch menschliche und politische Hürden leichter genommen werden, „weil man sich auf Augenhöhe begegnete“. Im Zuge der Vergabe von Aufträgen zur Projektrealisierung schloss EWN 1000 Verträge und Nachträge allein mit russischen Firmen und Instituten.
Entstrahlte Nordregion Russlands
Ein bis zweimal pro Monat düsten die EWNler für jeweils eine Woche in den Norden der Halbinsel Kola zu Inspektions-, Kontroll- und Abnahmetätigkeiten, „egal ob es bitterkalt oder sengend heiß war“, so Menger. Als Teilprojektleiter war er, der zuvor auf vielen Feldern einschlägige Bau-Erfahrungen sammeln konnte, verantwortliche für die Steuerung der Arbeitsschritte beim Bau des 600 Millionen-Dollar-Entsorgungszentrums und Langzeitzwischenlagers mit angeschlossenen Labors. Damit wurden in der Saida-Bucht des Kola Fjords die Voraussetzungen geschaffen, um kontinuierlich die radioaktive Materialien 70 Jahre zu lagern. „Wobei die Vorschriften teils noch schärfer sind als in Deutschland“, weiß Menger, „und Tschernobyl war keine technische Panne, sondern auf menschliches Versagen zurückzuführen“.
Das war noch nicht alles, was EWN zu leisten hatte. Auf der Nerpa-Werft 60 Kilometer nördlich von Murmansk sollten die Atom-U-Boote – Verdrängung bis zu 48.000 t, 173 Meter Länge, 23 Meter Breite und 190 MWth Leistung effizient zerlegt werden, doch deren Infrastruktur befand sich auf dem Niveau der 60er und 70er Jahre. „Dafür mussten die für Transportvorgänge notwendigen Schwimmdocks, Hafenschlepper und Pieranlagen umfassend instandgesetzt, ausgebaut und saniert werden“, erklärt Bernd Menger, „die Werft bekam Spezialcontainer zur Lagerung von radioaktiven Abfällen, Schwimmpontons und – piers sowie ein in Rostock entwickeltes schienengestütztes Schwerlasttransportsystem samt Reststoffverfolgungs- und Kontrollsystem“. Inzwischen haben EWN und der Bund das Projekt beendet, „aber die russischen Kollegen arbeiten weiter an der Entsorgung“, konstatiert Menger, „insgesamt war das eine hohe Summe, die sich aber im Hinblick auf den Schutz der Umwelt in der Nordregion absolut gerechnet hat“, ist Bernd Menger sicher.
Info:
Eine empfehlenswerte Lektüre dazu ist das spannende Buch des Rostocker Journalisten und Ex-NDR-Chefs vom Dienst Michael Schmidt, der das Privileg hatte, als einziger westlicher Berichterstatter dabei sein zu dürfen: „Sperrzone Murmansk – Wie Russland seinen Atom-Schrott entsorgt“; 223 S., Euro 14.99; ISBN 978-3-360-01330-9