Am besten liest man sich dort erst einmal im Besucherbuch ein. Wilde Empörung! Caravaggio in Holland! Wo dieser große Künstler – und Tunichtgut in einem – doch nachweislich nie in Holland war. Wie kann dem Städel, wie kann Jochen Sander bloß so ein Fehler passieren? Aber dann gibt es andere, die den Tiefsinn des Titels auf Anhieb verstehen. Natürlich war und ist Caravaggio, der als Michelangelo Merisi 1571 in Caravaggio bei Mailand geboren wurde und schon 1610 starb, nachdem er Jahre wegen eines Totschlags auf der Flucht war – noch eine Parallele zum berühmt-berüchtigten Bildhauer Benvenuto Cellini, der übrigens im Geburtsjahr Caravaggios starb -, natürlich war und ist Caravaggio in Holland gewesen, denn seine Manier zu malen, hat drei Maler aus Utrecht: Hendrick Terbrugghen, Gerard van Honthorst und Dirck van Baburen völlig unabhängig voneinander nach Rom gezogen, wo sie über zehn Jahre ihr Handwerkwerk an Caravaggio schulten und dann nach der Rückkehr in die Heimat zwei Fliegen mit einer Klappe schlugen und innerhalb nur weniger Jahre nach 1620 die perfekten holländischen Caravaggios schufen oder auch die optimalen caravaggesken Niederländer.
Und was es mit den Fliegen und der Klappe auf sich hat, entwickelt Jochen Sander vor dem Starbild der Ausstellung, Caravaggios ’Dornenkrönung Christi’ aus dem Jahr 1603 aus dem Kunsthistorischen Museum Wien im Vergleich mit der Dornenkrönung des Dirck van Barburen von 1622 aus Utrecht. Kann eine grausame Dornenkrönung schön sein? Diese ist es. Beredt analysiert Sander das Vorbild. Der weiße geschundene Leib des Gottessohnes, der den roten Herrschaftsmantel noch über der einen Schulter trägt, während die ersten Blutstropfen schon herabrinnen. Denn die zwei Unholde, so schmählich, daß man nicht einmal ihre Gesichter sieht, Typen eben, drehen an langen Stöcken die Dornen auf dem Haupt zusammen. Rohe gemeine Kerle, deren einer – angeschnitten – dem Betrachter seine gewaltige Achselhöhle entgegenstreckt. Absolut degoutant und man meint, den Schweißgeruch zu riechen. Und links der Eintritt ins Bild, in Rückensicht der schwarzglänzende Harnisch des Kommandanten Folterer, der wohl den Auftrag gab, aber an dessen Händen das Blut nur symbolisch klebt. Eine theaterhafte Inszenierung, die die Einsamkeit und Demütigung Christi ins gleißende Licht setzt.
Darf man das? Darf man das Dekorum, die der theologischen Situation angemessene Bildsprache der Kunst bis 1600, so gnadenlos realistisch als Bildeinheit von Gott und Unterschichtstypen darstellen. Caravaggio tut es, und noch dazu in dem präzisen feinen Malstil dieser Jahre im Helldunkel. Später malt er anders, rauer, nicht mehr so elegant. Und diesen Stil greifen die Utrechter Caravaggisten auf. Sie nehmen die warmen bräun-rötlichen Erdfarben hinzu, Dirck van Baburen dreht seine Dornenkrönung ein wenig und wir haben beim selben Motiv ein völlig anders Bild, bei dem nur noch die Lichtführung auf den infolge des Schweißes spiegelnden Christusleib an das Vorbild Caravaggio erinnert. Hier ist nicht mehr die Einsamkeit zu spüren, sondern der Schmerz, denn Christus hat mit dem Hauptmann, der hier nicht mehr den eleganten Federbuschhut trägt, sondern einen militärischen Helm, ein Pendant bekommen und die beiden Folterknechte sind Männer aus dem Volk, die ihre Arbeit tun. Hier könnten wir ganze Geschichten erspinnen, denn der Hauptunterschied zwischen den beiden Bildern mit dem gleichen Inhalt, sind weder Farben, noch Formen, sondern, daß diese Bilder Geschichten erzählen. Jochen Sander spricht von „narrativer Aufladung, als ob man den Bibelbericht liest“.
Das stimmt und hat man dies anhand dieser Beispiele für sich selbst analysieren können, geht man fortan mit anderen (Vergleichs-)Augen durch diese Ausstellung. Denn diese Niederländer erzählen nicht nur, sondern sie siedeln die von Caravaggio erfundenen Szenen des Lautenspielers in ihrer Umgebung an, machen aus einem edlen jungen Herrn eine rotzfreche und hübsche Dirne. Dazu stellt Jochen Sander das zweite Caravaggio-Paradestück, den „Lautenspieler“ aus Sankt Petersburg dem gegenüber, was die Welt nun als Musikantenstück oder Wirtshaus und Bordellgenre bezeichnen wird. Während Caravaggios Lautenspieler noch etwas für die Eingeweihten war, die die vor dem Spieler liegende Notenschrift, zu dem er sich selbst summend oder singend begleitet, wiedererkennen und ebenfalls mitsummen können und das gesamte Ambiente von Blumengesteck und Früchten im Dunkelweiß höhere Weihen und eine edle Umgebung atmet, sind aus den Utrechter Musikanten fiedelnde Dirnen geworden, die mit tiefem Dekolletee und saugendem Blick den Betrachter hineinziehen ins Liebesleben, zu dem die Musik aufspielt und anfragt. „hätte ich nun einen Burschen, der mit die Laute spielte“ oder eben einen fiedelt.
Hier bei diesen Bildern geht’s zur Sache, wozu auch der Alkohol gehört und hat man sich mit Jochen Sander erst einmal auf den Weg gemacht, kann man eine solche Fülle von Korrespondenzen und ikonographischen Eindeutigkeiten ausmachen, daß es nur so eine Freude ist. Natürlich gibt es dann genügend Differenzierungen im einzelnen. Die Alten sind die Männer – Stichwort. Wein, Weib, Gesang – , ist es mal eine Frau, dann ist sie die Puffmutter. Denn die Prostituierte hat jung zu sein, eine Dirne aus dem Volk, vollschlank, deftig und anspielungsreich, denn zur Verführung gehört auch die Verstellung. Und die jungen aufspielenden Männer, denen auch das Oberkleid über die nackte Schulter rutscht. Sind es Kunden, sind es Gekaufte? Sehr vieldeutig wird es auf einmal in der erst einmal überschaubaren Eindeutigkeit des Genres Puff, das in der niederländischen Kunst eine alte Tradition hat, an die die drei Caravaggisten van Barburen, van Honthorst und Terbrugghen hier anknüpfen.
Das war nun absolut holzschnittartig wiedergegeben, was die Führung von Jochen Sander sehr viel detaillierter an so vielen Bildbeispielen aufzeigen konnte. Vor allem die Anwesenheit der Utrechter in Rom kam zu kurz, die dort im Nu in denselben höchsten Kreisen Aufträge erhielten, die zuvor Caravaggio bedient hatte. Katholische Auftraggeber. Aber Utrecht war protestantisch und hatte kaum mehr Auftraggeber, dafür aber den sich entwickelnden Kunstmarkt. Deshalb waren solche als Genre traditionellen Bilder mit Musikanten und Huren sehr gut eingeführt und gut verkäuflich und mit der aus Rom mitgebrachten caravaggesken Malweise ein Hit auf dem Kunstmarkt.
Wir fragten abschließend Jochen Sander nach seiner Motivation zu dieser so ungewöhnlichen wie gute Laune machenden Ausstellung. „ Das Städel Museum hat vor knapp zwei Jahren mit Dirck van Baburens "Singendem jungen Mann" von 1622 eine kapitale Neuerwerbung auf dem Altmeistersektor machen können. Das Bild, das normalerweise neben Rembrandts großartiger "Blendung Simsons" im Niederländersaal hängt, macht dem Besucher dort sofort und unmißverständlich klar, was die "Utrechter Caravaggisten" für die nachfolgende Künstlergeneration in Holland bedeutet haben. Die Ausstellung stellt es nun in den Kontext seiner Entstehungszeit und schildert die erstaunlichen Wandelungen, die das Motiv der halbfigurigen Musikanten gemacht hat, als es aus dem Rom Caravaggios in das Holland seiner Zeit verpflanzt worden ist.“
Wir fragten auch nach der Aufnahme durch das Publikum, das ja immer aus Fachleuten und den allgemeinen Besuchern besteht. Jochen Sander: „Die Bilder der Utrechter Caravaggisten haben eine solche Unmittelbarkeit und Direktheit, die sich auch dem heutigen Betrachter sofort mitteilt. Für die Fachbesucher bietet sich die willkommene Gelegenheit des direkten Vergleichs der in so unmittelbarer Bezugnahme aufeinander entstandenen Werke, für den Besucher ohne Vorkenntnisse ergeben sich sehr überraschende Einblicke in die seit der Entstehungszeit der Bilder so grundlegend veränderten Normen der Gesellschaft, seien sie an den Kleidern oder an der sozialen Interaktion der Dargestellten ablesbar.“
Sie sehen also, die Zeit eilt, diese Ausstellung noch anzusehen, wissen aber zum Trost, daß Sie das Movens dieser Ausstellung auch danach im Niederländersaal neben Rembrandt finden werden. Es sei denn, diese Ausstellung macht Schule, denn dann müssen die singenden, fiedelnden, musizierenden Halbweltdamen und ihre Freier wandern und durch die Museen tingeln. Das ist einmal eine rundherum gelungene Ausstellung, die ein Thema hat, das sie entwickelt und wo jeder Besucher den konkreten Erfahrungen nachspüren kann und die gezielten Thesen überprüfen kann, ohne durch zu viel und zu viele Bilder überfordert oder gar verwirrt zu werden.
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Katalog: Caravaggio in Holland. Musik und Genre bei Caravaggio und den Utrechter Caravaggisten, hrsg. von Jochen Sander u.a., Städel Museum- Hirmer Verlag 2009
Ausstellung: bis 26. Juli 2009