Anonym und Anonymus trumpfen auf – „Von Dürer bis Gober“ 101 Meisterzeichnungen aus dem Kupferstichkabinett des Kunstmuseums Basel

Ambrosius Holbein (um 1494 bis um 1519), Bildnis eines jungen Mannes, 1517, Kunstmuseum Basel, Kupferstichkabinett. Inv. 1662.207a

Es folgt von Georges Braque „Mann mit Pfeife“ von 1912, Kohle auf Holz, eine lichtvolle Abstraktion, das was man nennt. Picassos „Demoiselles“ von 1907 sind auch dabei, als Kompositionsstudie nackt in der Bewegung verharrend, noch ohne ausgefeilte Köpfe, statt dessen leere ovale Footballs. Merkwürdig. Jetzt folgt Anselm Feuerbachs „Medea“, eine Kreidezeichnung von 1866/67 und gleich von Georges Seurat auch in Kreise „Frau mit Sonnenschirm“ von 1884/86, die zu sehen man sich immer freut, weil dies Seurat ’pur’ ist. Kennt man Böcklin, erkannt man auch die kohle/Kreidezeichnung von 1852 „Landschaft mit zwei Nymphen, von einem Faun beobachtet“ sofort am Bildpersonal. Der Verwandte hängt daneben, „Kentaur“, eine Wolke betrachtend, eine feine Bleistiftzeichnung von Odilon Redon dicht daneben. Solche Bezüge mögen wir und flugs glauben wir, endlich das Konzept dieser Ausstellung erkennt zu haben, aber aus weiteren schönen Blättern mit idealisierten Landschaften reißt uns Anton Graff heraus, der 1808 seinen Sohn porträtiert, ein der mit großen Augen und zusätzlich aufgerissenem Blick an uns vorbei schaut, mit den Tüchlein bis zum Kinn zugedeckt, wie es männliche Mode war, die Haare verstrubbelt und die vollen Lippen geschlossen. Weder herrisch noch subaltern, weder arrogant noch ängstlich. Die Gefühllage des jungen Herren wechselt ständig, zumindest in unseren Augen, die wir ihn lange betrachten. Ein schönes Porträt.

Aber noch immer sind wir im Eingangsbereich, nun auf der gegenüberliegenden Seite eine Folge von Bergmassiven und ein uns gut bekanntes Porträt, gefertigt von Carl Philipp Fohr, das 1816 einen jungen Mann vor dem Heidelberger Schloß zeigt, der nicht Hölderlin ist, obwohl wir ihn immer dafür hielten. Aber welche Systematik verbindet sich mit dem Rundgang, geht es nach Zeit, nach inhaltlicher Korrespondenz? Ach, denken wir auf einmal, uns ist das egal, wir brauchen keine, uns überzeugt jedes einzelne aufgehängte Blatt. Da haben wir allerdings die Rechnung ohne den Wirt und Kurator Christian Müller gemacht. Denn der hat eine zeitliche Abfolge seiner 101 Meisterzeichnungen vorgesehen, die nun, ordentlich in Raum 1 auch für uns beginnt.

Leicht konnte er es sich nicht machen, mußte er doch aus dem sensationellen Bestand des Kupferstichkabinetts auswählen: rund 60 000 Zeichnungen, etwa 250 000 druckgraphische Einzelblätter und Bücher mit Originalgraphik. Das Amerbach–Kabinett aus dem 16. Jahrhundert bildete die Grundlage und aus ihrem Bestand kommen gleich die schönsten Blätter der Ausstellung, eine wundervolle Federzeichnung von 1490 von einem oberrheinischen Anonymus, sehr geeignet für Männerphantasien. „Nacktes Mädchen und Bürgersfrau mit Einhörnern“, den Falbeltieren, die eine Sehnsuchtsmetapher sind, aber auch deutlich auf Sexualität verweisen. Hier legen sie lammfromm ihren Vorderhuf auf den jeweiligen nackten und bedeckten Schoß der Fräuleins. Noch.

Und jetzt folgt ein Name auf den anderen dieser wunderbaren Künstler der Spätgotik, die bruchlos in die Renaissance übergeht und lange währt: Jörg Schweiger, Martin Schaffner, Ludwig Schongauer, den Meister, den Dürer nicht mehr lebend antraf. Aber es blenden nicht nur die Namen der Zeichner, man sieht auch einen papiernen Entwurf für einen Flügelaltar, sehr selten zu sehen, wo die spätere Gemäldeausführung skizziert ist und wir jetzt schon wissen, daß in der Predella eine Veronika von zwei Engeln gehalten wird, dieser römische Neuauflage des wahren Antlitz Christi aus Edessa, hier aber ohne die Dornenkrone, die der Veronika eigen sein müßte. Wir wandern fast ehrfurchtsvoll an den Blättern entlang, lesen Urs Graf, den Monogrammisten HF, und erkennen sofort dieses wunderbare kolorierte Aquarell von Lucas Cranach d. Ä. wieder, „Kopf eines bäuerischen Mannes“ um 1525 und von solche realistischer Gestaltung und Ausdruckskraft, daß keine Fotografie diese Individualität erreichen könnte – finden wir wenigstens. Überhaupt die Porträts, hohe Zeit der Renaissance, Albrecht Dürers „Kardinal Lang“ von 1518, Hans Schäufeleins „Junger Mann“, Hans Baldung Griens Selbstporträt von 1502, das immer an ein Jungfrauengesicht denken läßt. Ambrosius Holbein”¦wir können nicht jedes Bild beschreiben, aber wir erleben es sowieso anders herum. Nicht wir schauen diese Blätter an, die haben längst die Herrschaft über uns erhalten, und blicken uns in die Augen, die Jungen und die Alten, die Männer und die Frauen.

Durchaus trunken gehen wir weiter, freuen uns jetzt an den Modernen, an Kirchner und Hodler, vor allem aber an Egon Schieles, den man außerhalb Wiens so selten sieht, „Auf dem Rücken liegende Frau“ von 1914. Toll gleich darauf Max Beckmann, der seine zweite Frau Quappi hier großformatig zeigt als Erscheinung, das vom Kerzenlicht angeleuchtete Gesicht rätselhaft. Die nach Quadratmetern zählende größte Arbeit ist von Bruce Naumann und sie ist die erste von einem Nichttoten. 1985 hat er Dostojewskis Thriller „Verbrechen und Strafe/ Schuld und Sühne“ mit dem Bleistift auf eine Männeransammlung reduziert, die mal mit mal ohne erigierten Penis nun herumstehen. Jetzt kommen noch weitere lebende Künstler, deren jüngste Robert Gober ist, dem sich der Ausstellungstitel verdankt. Wir aber denken uns, dann hätte es mit „Anonym“ und „Anonymus“ anfangen müssen. Aber „Dürer“ klingt nicht nur gewichtiger, sondern sagt inhaltlich auch was aus. Aber wie sich solche Titel verselbständigen. Zwei Besucher fragten uns, wo denn der Goya hinge. Sie hatten schlicht Dürer mit Goya verbunden, weil ihnen Gober wohl nichts sagte. Sigmund Freud hat uns erklärt, wie das mit dem Versprechen und Verlesen ist. Das war eine wunderbare Bestätigung und der Abschluß einer glanzvollen Ausstellung, die wie der Tropfen auf dem heißen Stein zeigt, was das Kupferstichkabinetts des Museum und Christian Müller als ihr Hüter alles in petto haben. Das kann man sich schon jetzt freuen.

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Katalog: Von Dürer bis Gober. 101 Meisterzeichnungen aus dem Kupferstichkabinett des Kunstmuseums Basel, hrsg. von Christian Müller, Hirmer Verlag, 2009

Ausstellung: bis 24. Januar 2010

Internet: www.kunstmuseumbasel.ch

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