„Andernorts“ von Doron Rabinovici im Suhrkamp Verlag – Serie: Rezensionen der Sechserliste des Deutschen Buchpreises vor der Prämierung des Preisträgers am 4. September 2010 (Teil 4/6)

So wie sein ’i` hat Doron Rabinovici so manches verschluckt, worauf die Leser dann draufkommen und es wiederkäuen, wobei das Absonderliche bei diesem sonderlichen Buche das ist, daß es ständig zwischen Lachen und Weinen, Aha und Ja so changiert, nicht, weil der Literat sich nicht entscheiden könne, was und wie er es erzählen will, sondern weil das Disparate, das Ambivalente, das Hin und Her, das Sowohl als Auch, sein Stoff ist, nämlich das Leben von den Judenmord in Deutschland Überlebenden und ihren Nachkommen, in Israel und anderswo. Herausgekommen ist ein Kopf, Herz und Gemüt gleichermaßen berührendes Buch, das sich wie von alleine liest und dem man trotz der Stoffülle und den Verwirrungen bis zum Schluß vertraut, daß das alles zusammengehöre, was als Geschichtsepos, Generationenkonflikt, West-Ost Geplänkel, Wissenschaftskrimi, Liebesschnulze, Familiendrama, Trauerverarbeitung und Gen-Mythos – das jüdische Gen, durch Sarrazin zu neuer Bedeutung geronnen, erhält hier eine weitere, himmlische sozusagen – zusammenkommt, ummantelt von jüdischem Witz und einer nur dort anzutreffenden Selbstironie.

Die Jury sagte zur Auswahl auf einen der letzten sechs Plätze zum Deutschen Buchpreis 2010: „`Andernorts` von Doron Rabinovici spielt zwischen Israel und Wien und verhandelt die großen Fragen des Judentums, der Schoah, des Erinnerns und Vergessens – und zwar auf unglaublich komische Weise. Es beginnt im Flugzeug: Der Kulturwissenschaftlicher Ethan Rosen, der in Wien mit seinem Kollegenfein Rudi Klausinger um eine Professur an der Universität konkurriert, ist auf dem Weg nach Tel Aviv, wo sein Vater im Sterben liegt. Dort angekommen, findet er am Bettrand des Vaters ausgerechnet Rudi Klausinger, der behauptet, in Wahrheit sein Bruder zu sein. Ist die Geschichte ihrer Familie also die Geschichte einer Lüge? Und Wenn ja: Welches Recht haben die Überlebenen von Ausschwitz, die in den Erinnerungen die Wahrheit suchen, eine Familie, einen Staat basierend auf einer Lüge zu gründen? Das sind die Fragen, die der in Wien lebende Doron Rabinovici stellt: in seinem schlauen reflektierenden, komischen und sehr elegant erzählten Buch.“

Es geht also um ernste, toternste Sachen und gleichzeitig werden sie heiter erzählt, wobei nicht nur dies als Diskrepanz auffällt und den Leser freut. Es fiel uns auch auf, wie sehr wir uns mit der Hauptfigur Ethan Rosen identifizierten, „Dozent am Wiener Institut für Sozialforschung, und Ethanusch, Tuchtusch, Ethanni, wie ihn seine Mutter rief, der kleine Etepetete, wie sein Vater scherzte“ (10), der so auch von uns behütet durch den Roman wandert, in dem am Schluß eine Familie total auseinander genommen war, aber beim Kaddisch für den verstorbenen Vater Felix Rosen sich wieder zu einer neuen fügt und es dann auch nicht mehr so darauf ankommt, wer ’blutsverwandt` ist, eine sinnvolle und menschliche Lösung der erst im Roman aufgetauchten familiären Schwierigkeiten.

Dazwischen liegen wunderbare Passagen, von denen uns die Kassettenaufzeichnungen dessen, der sich mit “Für mich muß kein Kaddisch gesprochen werden“(47) verewigt, Dov Zedek, besonders gut gefallen haben, nicht nur, weil diese erst nach dessen Tod an seinen ’Neffen` Ethan abgeschickt wurden, der gleich mit zwei väterlichen Freunden groß geworden war, was er wußte, aber nichts von den Hintergründen ahnte. Der Roman ist auch aktuell in dem, was den Wissenschaftsbetrieb und die Auftritts- und Schreibhetze von heute angeht. „Am nächsten Morgen sagte Ethan alle Termine ab. Er würde, schrieb er nach New York, nicht zum Vortrag kommen können. Er entschuldigte sich bei der Kollegin in Rom”¦französisches Schloß”¦Antwerpen”¦Berlin”¦Budapest”¦Breslau”¦Er meldete sich einfach ab. Es war, als liege nicht sein Vater im Sterben, sondern er selbst. Er gab eine berufliche Todeserklärung ab.“(101) Wen vor solcher Konsequenz nicht blanker Neid ergreift, der weiß nicht, was modernes Adabei ausmacht und was auch Rezensionen vor der Buchmesse und zum Deutschen Buchpreis an Druck auf die Ausführenden erzeugt.

Tiefe Liebe zu den Angehörigen, die spürt man im Buch auch, seien es Eheleuteliebe, Geschwisterliebe oder Ethan und seine Eltern: „Mein Vater ist die Mame alle jiddischen Mames. Meine Mutter hingegen nicht. Sie ist ein israelischer Panzerkommandeur.“ (108) Und man spürt auch Liebe zu Israel und Vertrautheit mit seinen Stätten. Wie schön, daß ’das Bauhaus` heute für Tel Aviv wieder ein fester Begriff ist und wie selbstverständlich in einem Roman steht, denn noch vor 40 Jahren waren die Häuser der aus Deutschland Gekommenen und den Bauhausstil Mitbringenden verfallen und vergessen. Und wie knallhart und richtig dann die Analyse der Wandlungen der israelischen Gesellschaft: „In den Sechzigern, als ich noch unterm Tisch herumkrabbelte, redeten die Erwachsenen oben unaufhörlich von Politik. Jede Handlung war vollgesogen mit Politik. Sie sprachen und sie sangen davon. Sie lachten und sie weinten darüber.“ (198)

”¦„`Und selbst noch in den Neunzigern hingen alle an den Geräten, wenn es wieder Sondermeldungen gab. Aber heute”¦spricht keiner mehr gerne über Politik. Die Leute reden nicht mehr über die Regierung und die Parteien, sondern sie streiten allenfalls über die neuesten Restaurants und Pubs. Früher trafen sie sich beim Essen, um zu politisieren, später politisierten sie nur noch, um gut essen zu können. Heute verdirbt ihnen ein Wort über die nationale Lage den Appetit.`“

Im Buch stecken also auch gehörig viele und gehörig richtige gesellschaftspolitische Analysen, die aber immer im Gewand des Romans daherkommen, immer eine Funktion für die behandelte Figur haben. Daß diese doch durch die Bank weg etwas holzschnitzartig geblieben sind, mehr einprägsame Typen als Individuen, das denken wir liegt am Thema, wo einer wie Doron Rabinovici alles wollte, auch viel vollbrachte, aber ’andernorts` die psychologische Feinarbeit hingehört. Wir haben diesen Roman sehr gerne gelesen und würden ihm dennoch nicht den Deutschen Buchpreis geben.

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