Am Nordpol im Eis – Serie: Per Flugzeug und Eisbrecher auf den Gipfel der Welt (Teil 2/2)

Der russische Nuklear-Eisbrecher ROSSIJA kämpft sich durchs Eis nach Norden. © Foto: Dr. Peer Schmidt-Walther

Klischees in den Köpfen

Dröhnend schlingert die Aeroflot-Maschine über das kieferngrüne Taiga-Meer. Kaum zu glauben: unter uns die Halbinsel Kola – geheimnisumwittert, fast noch terra incognita. Wer hat sie seit 1945 schon bereist?!

51 Arktisfans aus acht Nationen haben den robusten AN-24-Flieger im nordfinnischen Rovaniemi am Polarkreis bestiegen. Jugendträume sind `s von Schnee-, Eis- und Forscher-Abenteuern, die sie Ende Juli hierher gelockt haben. Dutzende der über 100.000 silbrig glänzenden Seen-Spiegel dieser eiszeitlich überformten Felsregion, geographisch dem „Fernen Norden“ Russlands zugeordnet, blinken zu uns herauf; synchron dazu spuken die medienbekannten Kola-Klischees durch unsere Köpfe: vom hermetisch abgeriegelten Stützpunkt der „Severny Flot“ (Nordmeer-Flotte), riesigen Atom-U-Booten, Sperrgebieten, Verboten überhaupt … Fotos auf dem Flugfeld, eine fast schon laxe Zollkontrolle lassen erste Zweifel daran aufkommen.

Noch beträgt unsere geographische Breite 68 °N bei + 10 °C Lufttemperatur. „Bei uns herrscht zehn Monate Winter“, meint Reiseleiterin Galina, „und zwei Monate warten wir auf den Sommer.“

Kalter Krieg dem Eis

Am frühen Nachmittag steckt ROSSIJA ihre bullige Stahl-Nase in die selten so bleiern daliegende Barents-See. Kurs 50 Grad ist abgesteckt. 75.000 PS, übertragen auf drei Schrauben (5 Meter Durchmesser und 42 Tonnen Gewicht), schieben den Koloss mit 21 Knoten nach Nordosten. Die Murman-Küste verliert sich achteraus im Mittagsdunst.

Wir werden, so ist zu erfahren, ungefähr der historischen Route von Fridtjof Nansen folgen, die er mit seiner im Eis driftenden „Fram“ zwischen 1893 und 1896 Richtung Pol eingeschlagen hatte.

Angestoßen wird auf einen glücklichen Reiseverlauf. Der Kalte Krieg, betont der Kapitän,  gelte nur noch dem Eis. „Uns Russen gehört der Nordpol, den Amerikanern der Südpol“, stellt er schmunzelnd fest. Er verweist auch auf Zukunftsprojekte wie eine Schifffahrtsroute Sibirien – Alaska via Nordpol; oder die verstärkte Nutzung des Sibirischen Seeweges, auf dem wir ein Stück entlang dampfen, für westliche Fracht- und Forschungsschiffe unter der Assistenz russischer Großeisbrecher.

Donnern und Krachen

Bei höllischem Lärm – durch Kopfhörer leidlich schallgedämpft – der Rotoren des einen von zwei bordeigenen Mi 2-Hubschraubern erklärt mir Eisbeobachter Nikolay die verschiedenen Eisformen, woran er sie erkennt und die Methoden der Beobachtung. Dennoch erleben wir es, dass ROSSIJA, trotz ihrer Kraft, 30-Zentimeter-Stahlarmierung und elf Metern Tiefgang nicht glatt durchkommt. Dann wird zurückgesetzt und im Voll-voraus-Anlauf Rammfahrt probiert. Während wir mit dem Hubschrauber auf dem Eis gelandet sind und die Eisdecke per Maßband manuell gemessen wird (vier Meter), können wir das Schiff bei einem derartigen Gewalt-Manöver beobachten. Mit geballten 75.000 PS wirft es sich einem schneebedeckten Zehn-Meter-Presseisrücken entgegen. Ein Donnern und Krachen, über 20 Meter hohe Eis- und Wasserfontänen werden geschossartig am Steven in die Luft geschleudert. ROSSIJA bäumt sich auf, rollt nach beiden Seiten und drückt mit ihrer 23.000-Tonnen-Masse den hinderlichen Eisrücken zu Brei. Unter schneidendem Zischen tritt Pressluft unter der Wasserlinie aus („air-bubble-system“), drückt das Eis vom Rumpf weg und reduziert so die gewaltige Reibungsenergie. Staunend stehen wir vor diesem arktischen Kraftakt und heben erst wieder ab, als ROSSIJA bedrohlich auf uns zu hält.

85 Grad Nord erreicht

Am 5. August (80 °N, 97 °E) kommen vor der Küste von ostrov Komsomolskaja, der nördlichen Insel, majestätische Tafeleisberge in Sicht, die das gleißende Sonntags-Sonnenlicht reflektieren.

Kap Arkticheskij, der nördlichste Inselpunkt mit einer Forschungsstation auf der Severnaja-Zemlja-Gruppe, fällt jedoch (buchstäblich!) ins Wasser: Die Hubschrauberpiloten weigern sich, die weitgeschwungene eisfreie Bucht zu überfliegen, da die Maschinen für Wasserungen nicht ausgerüstet sind. Wie es der Zufall will: Kurze Zeit später streikt bei einem der Helis eine Turbine und er muss in dichtem Nebel auf einer Scholle notlanden. Zum Glück in Sichtweite der ROSSIJA. Nicht auszudenken, wäre dieses Malheur über dem Wasser passiert. Die sehr großen Flächen offener Seegebiete, russisch Polynia genannt, reißen Wind und Strömungen in die Eisdecke.

In der Nacht die Meldung von der Brücke: 85 °N soeben erreicht! Jeder nächsthöhere Breitengrad ist ab jetzt das Bordereignis, und alles fiebert den magischen Punkt 90 °N entgegen.

Geschafft: am Nordpol!

Auf der Seekarte, der wohl seltsamsten der Welt, sind nur noch konzentrische Breitenkreise zu sehen. Unbeirrt poltert ROSSIJA durch die drei bis fünf Meter dicke polare Festeisdecke. 60 bis 70 „Schaulustige“ drängeln sich zeitweilig auf der Brücke. Die Kameras schussbereit, starren sie wie gebannt auf den Navigationscomputer. Der Zweite Offizier Andrej, heute ganz „offiziell“ mit Schirmmütze, ruft laufend die Position aus und markiert sie in der Seekarte.
An diesem 08. August, um 13:00 Uhr, 2.433 Seemeilen von Murmansk, zeigt der Bildschirm den Punkt satellitengenau an: 90 °00 ´00 ´ ´N.

Das ist der Beweis! Jubel, Umarmungen, Bruderküsse, vielsprachige Gratulationen, Sektkorken knallen, Gläser klirren, „Nastarowje!“-Rufe. The „top of the world“, der geographische „Gipfel der Welt“, liegt bei 4.000 Metern Wassertiefe unter unserem Kiel! Das Typhon verkündet das minutenlang. Spontane Gefühlsäußerungen von „Wunderbar!“ bis „Ein alter Traum von mir, habe ich mir schon immer gewünscht!“, reicht die mehrsprachige Skala. Die Brücke heizt sich auf bei so viel menschlicher Wärme, während draußen Nebel und Schneetreiben für eine „festliche“ Kulisse sorgen.

Wir fühlen uns wie Pioniere, sicher anders als Robert E. Peary, der als Erster am 06. April 1909 den Nordpol (per Hundeschlitten) erreichte. Dennoch ist es auch heute ein (exklusives) Abenteuer, bei dem die Natur immer noch das Programm macht. Trotz aller Technik.

Zeitlos glücklich

Im Gegensatz dazu das von den Menschen für diesen historischen Tag vorgesehene Programm. Als Höhepunkt dieser Reise soll es auf dem „Festplatz“, einer halbwegs ebenen Eisfläche an Steuerbordseite, abrollen. Zeit spielt keine Rolle, denn Tag und Nacht sind eins. Die Sonne dreht sich, ohne auf- oder unterzugehen, über uns auf einer gleichförmigen Kreisbahn. Auch die Datumsgrenze kommt hier auf den Punkt, was allerdings keine kalendarischen Folgen für uns hat. Hier kann man zeitlos glücklich sein.

Ein paar äußerst Mutige tauchen zunächst einmal unter großem Gejohle der dick vermummten Zuschauer ab: nackt ins 0 °C kalte und über vier Kilometer tiefe Eiswasser. So rot und blitzartig, wie sie wieder herausstürzen, so frostig ist es gewesen. Da hilft auch kein Wodka, sondern nur noch das russische Dampfbad.

Matrosen räumen auf dem Festplatz den Schnee beiseite, richten zwei Flaggenmasten auf, schleppen Rednerpult und Grillgerät aufs Eis. Die Nordpolfahrer versammeln sich unter den friedlich flatternden Fahnen Russlands, USA, Finnlands, Deutschlands, Frankreichs, Kanadas, Arabiens, der Schweiz und Australiens. Signalmunition zaubert Silvester-Stimmung in den Himmel. Neun Nationalhymnen lassen uns zu Eissäulen gefrieren, dann die Festreden: vom Kapitän und dem Reederei-Vizepräsidenten. Noch einmal Glückwünsche, Lob und Werbung für die Leistungsfähigkeit der russischen Flotte – bis es reicht.

Problem mit der Himmelsrichtung

Ausgelassen tanzen wir im Kreis einmal um die Erde: in der Rekordzeit von zwei Minuten haben wir es geschafft. „Wenn man sich vorstellt, was da tief unter uns alles so passiert …“, sinniert Mitfahrer Andreas vor sich hin und reiht sich in den Kreis der Tanzenden ein. Denis, unserem Junior, überreicht der Kapitän den meterlangen vergoldeten „Schlüssel zum Nordpol“. Uns werden Urkunden überreicht. Dr. Ibrahim aus Saudi-Arabien hat allerdings ein Problem: als gläubiger Moslem möchte er seinen Teppich ausrollen und gen Mekka beten, doch am Nordpol gibt es nur eine Himmelsrichtung: Süden. Sein religiöses Pflichtgefühl obsiegt. Als erster Araber ist er nicht nur am Südpol gewesen, sondern jetzt auch am Nordpol.
Mit ein paar Schlucken Süßwasser bester Qualität aus einem türkisfarbenen Süßwassertümpel, die überall auf dem Eis aus Schnee schmelzen, erfrischen wir uns. Manche nehmen eine Kanne voll mit an Bord. Letztes Zeremoniell auf der Back: ein Stahlzylinder mit den Passagiers- und Besatzungslisten wird im Wasser versenkt.

Gegen 01:00 Uhr befreit sich ROSSIJA mit Pressluft rumpelnd aus der Treibeisumklammerung, um den Kurs auf Franz-Joseph-Land einzuschlagen. Nach mehreren Versuchen kommt ein Funkgespräch mit dem deutschen Forschungseisbrecher „Polarstern“ zustande, der bei Spitzbergen auf 78 °N, also „weit unter“ uns, operiert: Glückwünsche und Erfahrungsaustausch.                                                                         

Informationen

Schiffs-Infos: NS (Nuclear Ship) ROSSIJA; Bauwerft: Baltische Werft Leningrad; Baujahr: 1981 – 1985; Indienststellung: 21.12.1985; Verdrängung: 22.920 tdw; Länge: 150 m; Breite: 30 m; Tiefgang (max.): 11 m; Maschine: turboelektrisch, Kernreaktor, Dampfturbinen; Leistung: 55.162 kW/75.000 PS; Geschwindigkeit: (max.): 21 kn; Propeller: 3; Klasse: Arctica; Crew: 140; Passagiere (max.): 128; Eigner: Russische Föderation; Reederei: FGUP „Atomflot“; Heimathafen: Murmansk; Flagge: Russland.

NS ROSSIJA, zweitgrößterNuklear-Eisbrecher der Welt, fuhr 1990 das erste Mal in der Weltgeschichte mit westlichen Passagieren als Expeditions-Kreuzfahrtschiff zum Nordpol.

Aktuell wird der noch etwas größere, 2006 in Dienst gestellte Nuklear-Eisbrecher 50 YEARS OF VICTORY eingesetzt (25.000 tdw, 159 m lang; Eigner: Poseidon Arctic Voyages, Murmansk), größter Nuklear-Eisbrecher der Welt.

1895 startete übrigens der Wismarer Kapitän Wilhelm Bade die erste Kreuzfahrt in die Polarregion mit dem Dampfer „Danzig“, der auch schon bei der Eröffnungs-Parade des Nord-Ostsee-Kanals dabei war.

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