Der vom Satirischen über das Psychologische bis ins schier unendlich Vielfältige reichende Reiz von Lewis Carrolls „Alice in Wonderland“ schrumpft auf der von CGI – Effekten überfrachteten Leinwand auf einen einzigen Nenner, den des rein Visuellen. Die eigentliche Filmhandlung ist rudimentär. Eine erwachsene Alice (Mia Wasikowska) träumt sich zurück in das Fantasiereich, wo ihr prophezeit wird, sie müsse „Underland“ retten. Sein Publikum zieht Burton in Bann, indem er seine Interpretationen der Buchcharaktere eine nach der anderen wie auf einer Bühne auftreten lässt. Das erste Drittel des Films zerfällt so ins Episodenhafte. Ist das Repertoire an neuen Figuren erschöpft, verliert auch die Handlung an Interesse. Über Dauer und Anzahl der Auftritte entscheidet das Spektakel, mit welchem die Charaktere inszeniert werden. Die Bedeutung der Figuren in der literarischen Vorlage spielt keine Rolle. Humpty-Dumpty, den Rittern, die Baronin – keinem von ihnen begegnet Alice. Wahrscheinlich schwimmen ihre abgehackten Köpfe in dem blutigen Burggraben, der das Schloss der bösen Königin umgibt.
Die herrlich bedrohliche Helena Bonham Carter ist die Königin des starbesetzten Ensembles. Einzig ihre Figur besitzt Tiefe. Ihre Grausamkeit ist Folge von Minderwertigkeitsgefühlen und Einsamkeit. Keinen Freund auf der Welt solle sie haben, wünscht ihr die eigene Schwester und verkennt, dass die Rote Königin nie Freunde hatte. Doch um welche der beiden Königinnen aus „Alice in Wonderland“ und „Through the Looking Glass“ handelt es sich? Ihre Untertanen nennen sie„bloody Red Queen“, welche sie als Schwester der Weißen Königin sein müsste. Gleichzeitig ist sie umgeben von den Herz-Motiven der Herzkönigin, in deren Schloss sie lebt und deren Kartensoldaten sie befehligt. Burtons Lektüre der Vorlage scheint lange her. Auch den Wald, welcher vergessen lässt, wer man ist, durchwandert Alice nicht. Insgeheim graute Burton wohl vor der assoziativen Kraft jenes Ortes, welcher unterschwellig an die Verdrängung des Wahrhaftigen in der Verfilmung erinnert. Wer sie ist, weiß Alice noch. Nur das Wunderland und seine Bewohner hat sie vergessen. Tatsächlich bedeutet ihr Vergessen des Wunderlandes die Auflösung ihrer Identität. Wie alle Romanfiguren ist Alice eine Gefangene ihrer Miniaturwelt. Trennt Burton das Wunderland von seiner Besucherin, hört sie auf zu existieren. Sie ist nicht mehr „Alice in Wonderland“, nur eine beliebige junge Frau. „Die falsche Alice“ nennen die Wunderlandbewohner die Heldin wiederholt. Wie könne sie die Falsche sein, wenn es ihr Traum sei, behaart Alice. Seine Alice sei die richtige, weil „Alice in Wonderland“ jetzt seine Geschichte sei, scheint sich Burton zu verteidigen. Vergisst man die Vorlage des Fantasy-Abenteuers, ist Burtons Werk eine unterhaltsame Leinwand-Spielerei. Doch wer will schon die echte Alice vergessen?
Carrolls Figuren entziehen sich der Visualisierung, weil sie aus Wortspielen, Sprachfiguren und abstrakte Konzepten bestehen. Versucht man sie erfassen, lösen sie sich gleich der Cheshire Cat in nichts auf. Nur ein Lächeln bleibt zurück. Nach dem Ansehen von Tim Burtons „Alice in Wonderland“ ist es ein trauriges Lächeln: ein schöner Film mit herausragender Besetzung und berauschenden Effekten. Ein schöner Film – für alle, die Peter Pan zuriefen: „Werd ´ endlich erwachsen.“, zu Dorothy sagten: „Nimm die grüne Brille ab.“ und Alice sagen hören wollen: „Lass uns übers Geschäft sprechen.“
Titel: Alice in Wonderland – Alice im Wunderland
Land/ Jahr: USA 2009
Genre: Fantasyfilm
Kinostart: 4. März 2010
Regie und Drehbuch: Tim Burton
Darsteller: Mia Wasikowska, Johnny Depp, Helena Bonham Carter, Anne Hathaway, Crispin Glover
Sprecher: Stephen Fry, Alan Rickman, Michael Sheen, Timothy Spall, Christopher Lee
Laufzeit: 108 Minuten
Verleih: Walt Disney