Nun, natürlich gibt es einen Stil, eine Handschrift, der ich versuche treu zu bleiben und die sich im besten Fall über die Jahre weiter entwickelt hat. Den gesellschaftlichen Umbruch, den es Ende der 80er gab, hat für mich allerdings erst mal bedeutet, dass ich aufgehört habe zu fotografieren. Mir waren das Gefühl und die Leidenschaft für das Bildermachen abhanden gekommen. Was bedeutete, dass ich die Kamera beiseite legte. Es brauchte eine gewisse Zeit, um diese neue gesellschaftliche „Spielwiese“ zu erkunden und seinen Platz zu finden. Ende der 90er stellte sich das verloren gegangene Gefühl wieder ein. Ich war wieder bei mir gelandet und konnte da weiter machen, wo ich aufgehört hatte.
Das heißt, dass das reale Leben, auch wenn es sich in Ihren Bildern nicht eins zu eins abgebildet wieder findet, durchaus die Basis Ihrer Arbeit bildet?
Natürlich. Ich lebe ja nicht in einer dieser kleinen Traumfotowelten. Meine Bilder erzählen Geschichten oder transportieren Gefühle. Ich verarbeite also auch immer ein Stück meines Lebens. Allerdings bin ich jetzt nicht der Fotograf, der Zeitgeschehen dokumentarisch aufarbeitet, in dem er Straßen und Plätze fotografiert.
Die von Ihnen inszenierten Bilderwelten faszinieren oft aufgrund ihrer Sinnlichkeit, des morbiden Charmes und der zielsicheren ironischen Seitenhiebe gegen das Bürgerliche Establishment. Günther Grass soll mal gesagt haben, das Bürgerliche sei der Grundstock allen Übels. Teilen Sie diese Ansicht oder sind Sie dem bürgerlichen Lager für dessen Existenz und den daraus erwachsenden Reibeflächen hinsichtlich Ihrer künstlerischen Arbeit dankbar?
Denke schon, also eher Zweiteres. Ich komme ja selbst aus bürgerlichen Verhältnissen. Dass ich mich irgendwann dagegen anfing aufzulehnen, weil ich wusste, dass ist nicht mein Weg, war ja auch eine Chance, um aus dem ausbrechen zu können, was mir da vorgelebt wurde. Insofern ist es sicherlich auch gut, dass es das Bürgerliche gibt.
Welcher gesellschaftlichen Gruppierung fühlen Sie sich zugehörig?
In einer Zeitschrift las ich neulich etwas über die so genannte Analoge Bohème des Prenzlauer Berg. Keine Ahnung, ob dieser Begriff den Sachverhalt trifft. Zu Ostzeiten zählte man ja schon zur Bohème, wenn man sich die Frage beantworten konnte, warum man morgens länger schlafen kann. Die Szene damals war allerdings deutlich übersichtlicher. Eine kleine Welt in der man beim Milchholen aufpassen musste, nicht in eine Bullenkontrolle zu tappen und sich dennoch seltsam frei fühlte.
Würden Sie sich selbst, als politisch aktiven Menschen bezeichnen?
Also eigentlich nicht. Mein Anderssein zu Ostzeiten war natürlich bewusst gewählt und damit auch ein Auflehnen gegen diesen ganzen Ost-Quatsch, mit dem man da Tag ein Tag aus konfrontiert wurde. Deshalb bin ich aber nicht mit Flugblättern rumgerannt, auch wenn das von Seiten der Stasi her in meinem Fall vermutet wurde. Die sind sogar in die von mir besetzte Wohnung eingestiegen, haben mein Fotolabor durchwühlt und die Aktion nach einem Einbruch aussehen lassen. Kurioserweise kam ich auch gar nicht darauf, obwohl es damals das Naheliegendste war, dass ich es mit der Staatssicherheit zu tun hatte. Stattdessen hatte ich mir in meiner Fantasiewelt die verrücktesten Sachen als Erklärung ausgemalt.
Was genau war Ihre Erklärung?
Ach ich dachte, der Einbruch wäre ein Vorbote eines Gewaltverbrechens oder so was in der Art. Die Überlegung kam mir, weil ich Tage zuvor, als wir bei mir meinen Geburtstag nachfeierten, plötzlich einen Mann im Hinterhof hocken sah. Der saß da, hinter einem Busch und glotzte zu mir in meine Erdgeschosswohnung rein. Ein völlig absurdes Bild. Ich bin dann raus und habe ihn gefragt, was er da macht. Der fühlte sich total in die Enge getrieben, brabbelte was wie, „Ich bin gleich weg“ und verschwand tatsächlich wieder. Dass das einer von der Staatssicherheit war, habe ich viel später realisiert.
Innerhalb Ihres Fotobandes tauchen diverse Protagonisten mehrfach auf. Oft scheint es auch, als existiere zwischen Fotograf und Model ein unsichtbares Band, eine besondere Art der Energie. Wie wichtig ist das Thema Vertrauen innerhalb Ihrer Arbeit und was für ein Verhältnis pflegen Sie zu den von Ihnen abgelichteten Menschen?
Einige der Leute tauchen tatsächlich öfter auf. Die stehen dann meist für eine bestimmte Zeit. Eine Zeit, die ich mit diesen Menschen zusammen gelebt habe, sprich die mich begleitet haben oder umgekehrt. Man baut also im besten Fall auf ein bestehendes Vertrauensverhältnis, auf eine Art Muse. Das Vertrauen ist also schon eine ganz wichtige Sache für mich. Es gibt da beim Fotografieren auch so einen Augenblick, da ist alles plötzlich ganz still. Da spüren beide, dass da was ohne Worte geht. Ich finde aber auch den anderen Weg spannend. Also, wenn man sich zum Beispiel nicht kennt und dieser Annährungsprozess erst während des Shootings entsteht. Auch so was kann total spannend sein. Man muss also nicht unbedingt mit jemandem zusammen früh Aufstehen, um ein gutes Porträt zu machen.
Sie sind gelernter Fotograf und Kameraassistent. Die Fotografin Helga Paris unterstütze Sie während Ihrer Anwartschaft in den Verband Bildender Künstler und gilt als einer Ihrer Mentoren. Welchen Einfluss hatte Helga Paris auf den jungen Sven Marquardt?
Also, die ganze Familie Paris hatte Einfluss auf mich. Das waren Künstler. Da lebten die Kinder in einer Hundertvierzig-Quadratmeter-Wohnung im Prenzlauer Berg und machten, was sie wollten, während die Mutter mal eben in West-Berlin oder Paris ausstellte. Für mich, der ich aus Pankow kam, war das eine ganz andere Welt. Eine Welt, die mich natürlich faszinierte. Irgendwann saßen wir dann mal zusammen am Frühstückstisch. Helga schaute sich ein paar meiner Bilder an und fragte, ob sie mehr sehen könnte. Dieser Moment war für mich wichtig, eine Bestätigung meiner Arbeit als Fotograf und auch eine Aufforderung zum Weitermachen. Ich bin dann immer mal wieder mit neuen Sachen zu ihr hin und irgendwann bot Helga mir dann an, die Mentorenschaft für die ersten drei Jahre im VBK zu übernehmen.
Was glauben Sie, warum eine Künstlerin, wie Helga Paris nach der Wende, innerhalb der dem Osten des Landes übergestülpten Gesellschaftsform, so gut wie keine Rolle spielte?
Nun, ich glaube, dass sich die Generation Helga Paris, in der neuen Zeit, noch weniger bereit war zu verbiegen, als andere. Die wollten sich weder in ihrer künstlerischen Freiheit beschneiden lassen, noch den ihnen angebotenen kommerziellen Weg gehen. Das haben viele dieser Künstler ja schon zu Ostzeiten abgelehnt.
Gab es einen ähnlichen Bruch in Ihrer künstlerischen Biografie und wenn ja, wie äußerte sich dieser Einschnitt?
Na, wie schon gesagt, ich hatte ja meine Kamera ja einige Zeit lang weggelegt. Dieses plötzliche mediale Überangebot, diese Flut an Bildern, an Neuem war einfach zu viel.
Da musste ich erst mal Schauen, mich neu ausrichten und fragen, was willst du eigentlich erzählen? Ich habe dann auch erst mal angefangen zu Jobben, habe als Verkäufer und als Türsteher gearbeitet, bin ins Klubleben eingetaucht und bin über diesen Weg peu í peu Teil des Neuen geworden. Das fand ich tausend mal spannender, als in Folge irgendeiner Arbeitsbeschaffungsmaßnahme in einem staubigen Fotolabor zu stehen.
Sie arbeiten derzeit nicht nur als Fotograf. Am Wochenende selektieren Sie für den Berliner Technoklub Berghain das feierwütige Publikum. Wie wichtig ist Ihnen der Job als Türsteher und gibt es einen Transfer zwischen beiden Tätigkeitsfeldern, sprich profitiert der Fotograf Sven Marquardt vom Türsteher und umgekehrt?
Meine Tätigkeit als Türsteher habe ich ja angefangen, als ich noch nicht wieder fotografiert habe. Das läuft also erst seit den letzten Jahren parallel. Beides beinhaltet natürlich den Blick auf Menschen, auch wenn sich die Tätigkeiten in meinem Fall nicht praktisch überschneiden. Ich caste ja nicht, während meiner Arbeit an der Tür. Aber natürlich inspirieren mich Gesichter. Ich schaue mir die Leute an und das tue ich beim Fotografieren im Vorfeld auch. Ich bin halt auch immer neugierig auf Menschen. Insofern, kann man da schon von einem Transfer sprechen.
Könnte man sagen, dass das Umfeld des Berghain deutlich mehr kreative Geister beherbergt als andere nächtliche „Spielwiesen“ Berlins und wenn ja, wieso ist das so?
Das vermag ich so nicht wirklich einzuschätzen. Ich habe ja auch in vielen anderen Läden gearbeitet und da auch immer interessante Leute kennen gelernt. Künstler, die nicht genügend Geld verdienen, auch weil sie versuchen sich treu zu bleiben. Die arbeiten dann lieber nachts im Klub. Ich denke daher, dass das Nachtleben generell viele kreative Leute beherbergt.
Mit welchem Künstler würden Sie in naher Zukunft gern mal zusammenarbeiten?
Also, da gibt’s keinen wirklichen Wunschkandidaten. Ich meine, es gibt viele Künstler, die ich bewundere aber deswegen würde ich nicht unbedingt mit einem von denen zusammenarbeiten wollen. Und die Menschen, die ich bisher fotografiert habe, stammen ja meist aus meinem persönlichen Umfeld. Ja, tut mir leid, aber die letzte Frage, muss dann wohl unbeantwortet bleiben.
* * *
Sven Marquardt: „zukünftig vergangen“, Fotografien 1984-2009, Mitteldeutscher Verlag, 2010