In der dritten Erzählung des vorliegenden Bandes beschreibt Alice Munro ein kleines Mädchen, das mit dem silberfuchszüchtenden Vater Fallen kontrolliert. „Bilder“ ist der Text betitelt, und tatsächlich rollen sich vor dem Auge des Lesers ganz Bildkompositionen ab, eindringlich schlüpft sie in die Sichtweise eines Kindes. Das Unerklärliche der Vorgänge, des Wandels der Natur, des Verhaltens der Erwachsenen, hat die Autorin gebannt. Ein Mann mit einer Axt, der durch Sträucher eilt, unten am Fluss der ahnungslose Vater. Das Mädchen macht sich nicht bemerkbar, sie schaut.
„Ich war nicht überrascht. Der Anblick, der dich nicht überrascht, das, was du immer gewusst hast, und es kommt so natürlich daher, bewegt sich so flink, geschickt und ohne Eile, als sei es einem Wunsch von dir entsprungen, einer Hoffnung auf etwas Endgültiges, Schreckliches.“
Der überraschte Vater kann kurz darauf den Heraneilenden beruhigen, spricht auf ihn ein und wird in dessen Höhle eingeladen, ja, tatsächlich, Joe bewohnt eine Höhle, nachdem ihm angeblich die Silas-Brüder sein Haus niedergebrannt haben. Der Vater betritt das Erdloch, als sei es die natürlichste Behausung der Welt. Das Mädchen beobachtet. Spät am Abend, zu Hause, in Sicherheit, wird sie bemerken, dass sich ihre Sicht auf die Welt geändert hat.
Alice Munro hat Geschichten um ihre Kindheit und Jugend geschrieben, schlüpft dabei in verschiedene Rollen und Geschlechter, dicht dran an Sommern, Gerüchen, Wind und Sonne – aber auch dem Schnee, der Mühsal, der kleinstädtischen Geschwätzigkeit und Missgunst. Ihre Eltern kennt der Leser aus den späteren Werken, dennoch ergeben die Splitter dieser frühen Texte ein abgerundetes Bild, legen Schlusssteine in ein Puzzle, deren Fehlen man nicht ahnte. Einige Sätze sind atemberaubend und stehen für sich; wenn sie zum Beispiel die Klavierlehrerin des Städtchens und deren Schwester beschreibt, zwei hässliche Wesen, aber: ”¦ „sie waren so heiter, wie unverletzliche und kindliche Menschen es sind; sie muteten an wie geschlechtslose, freie und sanfte Geschöpfe, exzentrisch, doch dabei häuslich, untergebracht in einem Heim in Rosedale außerhalb aller Zumutungen der Zeit.“
Das Buch ist nicht nur durch die unvergleichlichen frühen Erzählungen Munros ein Schatz, – die immerhin vor 40 Jahren den amerikanischen Lesern vorgelegt wurden! – die Verlegerin Sabine Dörlemann konnte sich für ihren feinen Züricher Verlag nicht nur die Rechte vom S. Fischer Verlag sichern, sondern auch noch mit dessen Hilfe die verdiente Munro-Übersetzerin Heidi Zerning gewinnen. Mit einem Gespür für Munros Zwischentöne und Geheimnisse lädt die Übersetzerin ein, dem taumelnden Tanz zeitloser Geister beizuwohnen.
In diesem griffigen Leinenband möchte man umherwandern und verweilen, um mit der Autorin das Geschaute für sich zu bewahren;
„Wie die Kinder im Märchen, die gesehen haben, dass ihre Eltern mit furchterregenden Fremden einen Pakt schlossen, die entdeckt haben, dass unsere Ängste auf nichts als Wahrheit beruhen, die aber nach wundersamer Rettung aus Gefahr heil nach Hause kehren, artig und wohlerzogen zu Messer und Gabel greifen und vergnügt bis an ihr seliges Ende leben – wie sie, von den Geheimnissen benommen und mit Macht begabt, sagt ich nie auch nur ein Wort.“
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Alice Munro, Tanz der seligen Geister, Erzählungen, Deutsch von Heidi Zerning, 379 Seiten, Dörlemann Verlag, Zürich 2010, 23,90 €