Es stimmt, die türkische Geburtenrate sinkt dramatisch. Schon länger ermahnt Ministerpräsident Tayyip Erdogan sein Volk, mehr Kinder zu gebären. Wenigstens drei sollen es sein, sagt er. Wenn die Türken nicht mehr Kinder zur Welt bringen, würden sie bald eine alternde Gesellschaft wie die Europäer sein, sagt er. Die letzte Mahnung gab er am Weltfrauentag aus und empörte damit nicht nur engagierte Frauenrechtlerinnen. Denn, der Staat sorgt nicht gut für seinen Nachwuchs. Gesicherte Einkommen sind in der Türkei rar, das Kindergeld ist nicht der Rede wert und Betreuungseinrichtungen ebensowenig.
Doch tatsächlich ist die sinkende Geburtenrate in der Türkei bereits eine Folge des wirtschaftlichen Aufstiegs des Landes und weiterhin eine Folge der Landflucht. Zu der türkischen Entwicklung gehören ganz unübersehbar das rasante Wachstum der Großstädte wie Ä°stanbul, Ankara, Izmir und Antalya beispielsweise. Täglich wachsen ganze Straßenzüge aus dem Boden, denen die Stadtplanung hinterher hinkt. Heute leben fast 70 Prozent der Türken in Städten, während es vor 30 Jahren noch die Minderheit war. Kleine Wohnungen, Doppelbelastung der Frau, der Zerfall der Großfamilie und unsichere bis gar keine Jobs ermutigen die neuen Stadtbewohner nicht gerade dazu, mehr als nur ein Kind in die Welt zu setzen.
Denn auch hier wie überall machen sich die Eltern Sorgen um die Zukunft ihrer Sprösslinge. In aller Munde ist die Bildung, auf die alle setzen, damit ihre Kinder es einmal besser haben sollen, als sie selbst. Türkische Eltern tun alles dafür, dass ihre Sprösslinge eine Universität besuchen können. Das Bildungssystem macht es ihnen jedoch nicht leicht. Und das fängt im Kindergarten bereits an. Öffentliche Einrichtungen gibt es viel zu wenige. Und die, die es gibt, sind hoffnungslos überfüllt. Schulanfänger in öffentlichen Schulen finden sich eher öfter als seltener mit 60-70 Klassenkameraden in einem Raum wieder, und müssen sich Schulbänke, die für 2 Kinder gedacht sind, zu dritt teilen. Wer sich keinen privaten Kindergarten oder gar eine Privatschule leisten kann, ist in den meisten Gegenden der Türkei unglücklich mit dem, was an Schulbildung zu erwarten ist. Die Lehrer sind nicht nur überfordert, sie sind auch schlecht bezahlt. Und weil der Lehrstoff in der Schule nicht bewältigt werden kann, gibt es in der Türkei die einzigartige Einrichtung der “Dershanes”, die Schule nach der Schule, die sich zu einer immensen Industrie entwickelt haben. Das sind private Einrichtungen, in die die Kinder spätestens nach der 4. Klasse geschickt werden, um das aufzuarbeiten, was tagsüber in der Schule “angelernt” wurde. Diese “Dershanes” kosten Geld – und nicht wenig. Kaum ein Elternpaar wagt, seine Kinder nicht dorthin zu schicken, aus Angst davor, ihr Sprössling könnte nicht Bestnoten erreichen. Bildung ist die Hauptsorge der Eltern.
Will die türkische Regierung die Familien davon überzeugen, wieder mehr Kinder zu bekommen, muss sie zuallererst am Betreuungsangebot und am Schulsystem ansetzen. Die stärkste Altersgruppe der Türkei ist heute 20-25 Jahre alt. Ein großes Potenzial eigentlich. Doch viele dieser jungen Menschen sind schlecht ausgebildet und die Angst vor der Altersarmut beherrscht sie jetzt schon. Hingegen ist die Generation der heutigen Erstklässler bei weitem nicht mehr so stark. Und das bereitet der Regierung große Sorgen. Die Rentner, die heute nur sechs Prozent der Bevölkerung ausmachen, werden 2050 mit mehr als 20 Prozent vertreten sein. Wer wird sie dann ernähren? Noch immer nämlich besucht von den zwölf Millionen türkischen Kindern etwa nur jedes neunte keine Schule, weil es zum täglichen Einkommen der Familie beitragen muss. Wenn Ministerpräsident Erodgan heute über eine Babyprämie nachdenkt, wäre diese sicher hilfreich. Aber er muss auch darüber nachdenken, wie es danach weiter gehen soll.
Sicher ist aber eines: die Türkei wird künftig kaum mehr auf Arbeitskräfte aus den eigenen verzichten können und somit ist die Angst der Europäer weitgehend unbegründet, türkische Arbeitskräfte könnten weiterhin auf der Suche nach Jobs europäische Länder überschwemmen. Sie werden in ihrem eigenen Land gebraucht.