Weltanschauungen – Der ungarische Regisseur Victor Bodó mit seiner Handke-Inszenierung beim Theatertreffen

Ensemble mit den Darstellern Martina Stilp, Thomas Frank, Anna Hay, Andreas Kolbabek und Christian Schütz.

Auf große Erwartungen folgt, wie bekannt, häufig Enttäuschung, und das Wissen, dass Bodó diese sechzigseitige Regieanweisung von Peter Handke, "Die Stunde da wir nichts voneinander wussten", auf die Bühne gebracht hat, ließ doch einige Bedenken bei mir aufkommen. Die erwiesen sich jedoch als grundlos, und meine hochgesteckten Erwartungen wurden von der Produktion des Schauspielhauses Graz bei weitem übertroffen.

Für mich war dieser Theaterabend nicht nur der bisherige Höhepunkt des diesjährigen Theatertreffens, sondern eines dieser ganz besonderen künstlerischen Erlebnisse, die sich unvergesslich ins Gedächtnis einprägen.

Es ist unmöglich, zu erzählen, was auf der Bühne geschieht, weil niemals sicher ist, ob den eigenen Augen getraut werden darf. Berichtet werden könnte von den Episoden, die sich aneinander reihen, Banalitäten und Tragödien, bei denen sich Menschen zufällig oder planvoll begegnen. Hier geschieht fast alles, was im Leben möglich ist. Geboren wird nicht, aber vielleicht wird auf der Toilette gerade gezeugt unter den Augen der Kamera, die überall dabei ist.

Theater- und Filmperspektiven ergänzen oder überlagern sich. Vielleicht wird hier auch nur ein Krimi gedreht.

Ein bekiffter Rowdy mit Motorrad überfährt einen Mann im Anzug. Der Mann fliegt auf die Bühne. Der Unfall ist immer wieder auf einem Bildschirm zu sehen, auf dem das Motorrad frontal auf das Publikum zu rast. Der Unfall könnte auch ein Auftragsmord sein, denn der Mann im Anzug ist kurz vorher von einer eifersüchtigen Frau bei einem Date überrascht worden. Drogen sind ebenfalls im Spiel und ein Koffer mit Geldscheinen.

Die Bühne, gestaltet von Victor Bodó und Pascal Raich, zeigt einen freien Platz, links und rechts begrenzt von Container-Buden, die in die Mitte der Bühne gerollt werden können. Da gibt es ein Café, ein Museum mit Ritterrüstung, aber auch ein Krankenzimmer in einer Klinik und eine Küche mit verschmierten Fensterscheiben. Wenn diese Küche auf dem Bildschirm erscheint, ist Wand an Wand mit ihr das Abteil eines fahrenden Zuges zu sehen.

Zu Beginn der Vorstellung ist der Platz noch menschleer. Nur auf der Bank im Hintergrund schläft ein junger Mann mit Lockenkopf. Es ist Morgen. Vögel zwitschern. Der Mann, er hat ein bisschen Ähnlichkeit mit dem jungen Peter Handke, erhebt sich von der Bank und schlendert über den Platz, der sich allmählich mit Menschen füllt. Ein Tourist mit Stadtplan in der Hand bittet um Auskunft, ein Installateur steigt in die Kanalisation hinunter, im Café erscheinen die ersten Gäste.

Danach steigert sich das Tempo, auf dem Platz wird gedrängelt, geschoben, geprügelt. Immer wieder aber gibt es, inmitten der Turbulenz, ruhige Momente, in denen Details näher gebracht oder Filmtricks entlarvt werden.

Das 15köpfige Ensemble, das sich in einer genialen Choreografie bewegt, besteht aus Schauspielerinnen und Schauspielern des Schauspielhauses Graz und der Szputnyik Shipping Company, die Vivtor Bodó 2008 in Budapest gründete.

Während der 90minütigen Vorstellung wird nicht gesprochen, jedenfalls nichts Verständliches, obwohl das Alles doch sehr beredt erscheint. Den wechselnden Rhythmus bestimmt die Musik , grandios live gespielt von Klavier, Violine und Cello und mit den Toneinspielungen von Gábor Keresztes.

In einem wundervollen Augenblick dieser Inszenierung verschwinden plötzlich die Szenerie und die herumwimmelnden Menschen in Rauchwolken, aus denen – nein, es ist nicht die Königin der Nacht, die da, prächtig gewandet mit Perücke, heraufsteigt und eine dramatische Arie zu Gehör bringt, die doch sicher Teil einer ganz großen Oper ist – aber das stimmt auch wieder nicht. Der Komponist der Arie ist der 1982 in Braunschweig geborene Musiker Klaus von Heydenaber, der während der Vorstellung am Klavier sitzt. Und die Sängerin Kata Petö wurde nicht von irgendwoher für einen Gastauftritt eingeflogen, sondern sie ist Teil des hervorragenden Ensembles, das diesen irritierenden und verzaubernden Theaterabend gestaltet.

Die Liebe zum Leben ist spürbar in dieser Inszenierung und die Macht der Phantasie, die größer ist als alle Irreführungen der Technik.

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