Im Stück geht es um ein Massaker, das 1945, in den letzten Kriegstagen, in Rechnitz, einem österreichischen Dorf an der Grenze zu Ungarn, stattfand. Auf Schloss Rechnitz hatte Gräfin Margit Batthyány Offiziere der SS und Gestapo-Führer zu einem „Gefolgschaftsfest“ eingeladen, in dessen Verlauf fast zweihundert arbeitsunfähige, entkräftete jüdische Zwangsarbeiter liquidiert wurden. Kurz darauf brannte das Schloss, und die Gräfin floh mit Ehemann und Geliebtem vor der Roten Armee in die Schweiz. Das Massengrab, in dem die Ermordeten verscharrt wurden, ist bis heute unentdeckt geblieben.
Elfriede Jelinek hat aus vielen Quellen zitiert, verwendet Aussagen von Zeitzeugen aus den Rechnitz-Prozessen in den Nachkriegsjahren wie auch aktuelle Kommentare, u.a. von Hans Magnus Enzensberger, bezieht sich auf „Die Bakchen“ von Euripides, lässt das Gedicht „The Hollow Men“ von T.S. Eliot einfließen, entfernt sich mit einer Flut von Assoziationen immer wieder von der Geschichte, hinterfragt und verändert sie dadurch wieder und wieder und bindet sie in größere Zusammenhänge ein.
Mit dem Titelzusatz „Der Würgeengel“ bezieht Jelinek sich auf den gleichnamigen Film von Luis Bunuel. Dort sind es die (Dienst)boten, die sich davonmachen und die Herrschaft allein lassen. In Jelineks Stück fliehen die Herrschaften, und die Boten bleiben zurück und erstatten Bericht.
Objektiv sind diese Zeugen nicht. Sie bedienen sich der Sprache der Täter, verwickeln sich in Widersprüche und demonstrieren ihre Redseligkeit als Form des Verschweigens.
Die Uraufführung des Stücks fand 2008 an den Münchner Kammerspielen statt. Vorher hatte die Chefdramaturgin Julia Lochte die Aufgabe zu bewältigen, die ungeheure Textmenge des Manuskripts auf etwa ein Drittel zu reduzieren. Die Aufführung dauert zwei Stunden und gespielt wird ohne Pause.
Anja Rabes hat die Bühne ebenso elegant wie rustikal ausgestattet mit Parkettfußboden, die Wände halbhoch getäfelt, aus dem grünen Anstrich darüber ragt ein Hirschgeweih heraus. An den Wänden sind rot gepolsterte Klappstühle angebracht, und die Täfelung besteht aus beweglichen Elementen, die sich in winzige Kabinette verwandeln, zu Türen öffnen lassen oder hinter denen Schränke verborgen sind mit beachtlichen Alkoholvorräten und den für die Jagd auf Tiere und Menschen benötigten Gewehren.
Musikalisch unterlegt ist die Aufführung durch einen kleinen Ausschnitt aus der Ouvertüre des „Freischütz“, eingängig bearbeitet und permanent abgenudelt. Auch ein paar Takte aus dem Jägerchor sind zu hören sowie Zitate aus dem Libretto.
Die von Elfriede Jelinek nicht klar umrissenen Personen der Boten sind in Jossi Wielers Inszenierung hochkarätig besetzt. Katja Bürkle, André Jung, Hans Kremer, Steven Scharf und Hildegard Schmahl verleihen diesen Abgesandten der Hölle Gesicht und Gestalt.
Hildegard Schmahl lächelt unentwegt grausam und hinterhältig als große Dame, die sehr wohl ordinär werden kann, Katja Bürkle gibt sich naiv, leicht hyterisch und besserwisserisch. Intellektuell und scheinbar ausgewogen präsentiert sich Hans Kremer, während Steven Scharf Brutalität und Treuherzigkeit und André Jung dandyhaften Zynismus vermittelt.
Immer wieder betonen diese Fünf, dass sie nur die Boten sind, nicht die Täter, obwohl sie doch so lustvoll in deren Rollen hineinschlüpfen, die Ermordeten, „die hohlen Männer“ genussvoll verhöhnen und sich an platten Wortspielen ergötzen.
Die Stimmführung der AkteurInnen, die Rhythmik ihres Sprechens sind ein hinreißendes musikalisches Erlebnis. Dazu kommt eine faszinierende Choreografie. Die Boten berichten ja nur, aber sie machen ihre Berichte spielerisch anschaulich, werfen die Abendgarderoben ab und formieren sich zur Orgie, zum Sauf- und Fressgelage und schließlich lüstern zur weihevollen Ausgabe der Gewehre für die Menschenjagd.
Die Boten wahren immer Distanz zu dem, was sie sagen und tun, und gerade dadurch wirken sie gefährlich. Dieses Quintett ist eine grauenvolle Verkörperung der Banalität des Bösen.
Ein völlig anderes Erlebnis des Stücks vermittelt die Inszenierung von Leonhard Koppelmann. Hier erscheint nur eine einzige Botin.
Das Publikum war im Foyer des DT versammelt. Dort begann der Monolog von Isabelle Menke mit der Schilderung der Ausgangssituation, gefolgt von der Aufforderung „Ab in die Schweiz!“.
Während die Botin, wie weiland die Gräfin, im Fluchtauto davonfuhr, begab sich das Publikum in einen Reisebus. Während der Fahrt waren auf einem Bildschirm Ausschnitte aus dem Film „Totschweigen“ von Eduard Erne und Margaret Heinrich zu sehen, und eine Männerstimme rezitierte aus dem Gedicht „The Hollow Men“.
Die Fahrt führte tatsächlich in die Schweiz, in die Schweizer Botschaft nämlich, wo durch Anstehen bei Personen-, Taschen- und Ausweiskontrolle einige Zeit verging. Als schließlich alle in einem Saal auf den ihnen überreichten Klappstühlen Platz genommen hatten, musste Isabelle Menke die Aufmerksamkeit für das Stück noch einmal ganz neu hervorrufen.
Vermutlich kommt so etwas den Intentionen von Elfriede Jelinek nahe, denn sie wünscht sich ja nicht gelegentliche abgeschlossene Gedenkveranstaltungen, sondern das Auftauchen des unbewältigten Grauens überall, im Alltag und ohne Feierlichkeit.
Die Aufführungsdauer des von Dramaturg Roland Koberg gekürzten Stücks betrug zwei Stunden, und die Textauswahl war ähnlich wie die von den Münchner Kammerspielen. Allerdings gab es in der Fassung von Koberg weniger Wortspiele und mehr Assoziationen. Die Aufführung vom Schauspielhaus Zürich wirkte offener als die aus München.
Isabelle Menke präsentierte sich sehr konzentriert, zeigte sich wandlungsfähig, bot Kabarettistisches und Akrobatisches und verstand es, mit herausfordernden Blicken und spannungsvollen Pausen das Publikum einzubeziehen.
Auch Isabelle Menke ließ das Bestialische und das Banale dieser Geschichte erschreckend spürbar werden, allerdings auch die nervtötende Geschwätzigkeit, die der Text beinhaltet.
Die Produktion des Schauspielhauses Zürich, die 2009 Premiere hatte, ist sicher als spannende und sinnvolle Ergänzung zu der Inszenierung an den Münchner Kammerspielen zu betrachten.