Der Designer, der nicht in der Lage ist, eine neue Linienführung schönzureden, muss indessen noch geboren werden. Der bei Jaguar dafür zuständige Mann heißt Ian Cullum, und er erklärt die rigide Abkehr von den vertrauten Formen kurzerhand damit, dass die alte Linie im Retro-Design erstarrt sei. Diese Verkrustung habe man aufgebrochen, ohne die Herkunft zu verleugnen. Was die Fahrzeugfront betrifft, muss man ihm recht geben. Das Heck ist hingegen eher beliebig geraten; säße statt der britischen Wildkatze ein französischer Löwe zwischen den nach Lancia Thesis-Art schräg angeordneten Rückleuchten, würde sich auch niemand wundern.
Im Innenraum verbreitet der XJ nach wie vor Glamour und Glanz, was durchaus wörtlich zu nehmen ist. Die Exemplare, in denen maximale Prachtentfaltung in Szene gesetzt wird, besteigt man am besten mit Sonnenbrille, denn in diesem Fall hat das Designerteam um die Passagiere herum soviel Chrom-Zierleisten und mit Hochglanzlack überzogene Hölzer untergebracht, dass das Flaggschiff der inzwischen in indischem Besitz befindlichen Marke bei Sonnenschein zu einer im wahrsten Sinne des Wortes blendende Erscheinung mutiert. Glücklicherweise gibt die Ausstattungsliste auch ein paar matte Oberflächen für Kunden her, denen nichts daran liegt, sich in Mittelkonsole und Türverkleidungen einer Nobellimousine zu spiegeln und durch emsiges Polieren allzeit makellosen Glanz zu bewahren.
Auf uneingeschränkte Zustimmung dürften bei Jaguar-Alt- und Neukunden hingegen die stets mit feinem Leder bezogenen Sitze stoßen. Typisch Jaguar ist auch der DriveSelector, der sich aus der Mittelkonsole erhebt, nachdem der Motor gestartet wurde. Mit diesem Drehknopf wird die nach wie vor sechsstufige Automatik aktiviert und gesteuert. Ist der Fahrer mit deren Entscheidungen nicht einverstanden, kann er ins Sport-Programm wechseln, das manuelle Eingriffe ins Getriebe erlaubt, und die Gänge mit Hilfe der Schaltpaddel am Lenkrad wechseln.
Dahinter findet sich der schön gestaltete Instrumententräger, der tiefergelegt wurde, um die ohnehin geräumige Kabine noch größer erscheinen zu lassen. Serienmäßig verfügt die Limousine über eine Luftfederung an der Hinterachse. Das Fahrwerk ist allerdings nicht mehr so extrem auf Komfort getrimmt wie früher: Passend zum Erscheinungsbild versucht sich der Jaguar XJ in gemäßigter Sportlichkeit. Etwas stärker tritt diese Neuausrichtung zu Tage, wenn der Fahrer den Dynamik-Modus aktiviert, da dann die Anzeigen im Blickfeld des Fahrers rot umrandet sind. Eine andere nette Spielerei ist, dass der jeweils relevante Bereich von Tacho und Drehzahlmesser stärker beleuchtet ist als der Rest der Skala und sich der Inhalt des Instrumentenfelds variieren. lässt.
Da die Karosserie größtenteils aus Aluminium besteht, gehört der XJ trotz seiner stattlichen Abmessungen zu den Leichtgewichten unter den Nobelkarossen: Rund 150 Kilogramm bleibt er unter den Platzhirschen von BMW und Mercedes, und den Vergleich in der Exoten-Ecke gewinnt die nur 1755 Kilogramm auf die Waage bringende Supersport-Version mit Kompressor-Benziner erst recht: Der Abstand zu Maserati Quattroporte beträgt 645 Kilogramm, und von einem Bentley Continental trennen den XJ sogar annähernd 1,2 Tonnen. Bei der Parkplatzsuche allerdings merkt man schnell, dass der 5,12 Meter lange, 1,89 Meter breite und 1,45 Meter hohe XJ auf Kundenkreise zugeschnitten ist, die nicht in einer europäischen Großstadt nach einer passenden Fläche suchen müssen. Für die Langversion gilt diese Feststellung in verschärften Maß, aber hinterm Lenkrad von 5,25 Meter-Limousinen sitzt vermutlich in vielen Fällen ein Profi-Chauffeur…
Etwa 80 Prozent der Kunden werden sich laut Jaguar-Schätzungen für den Diesel konsumierenden 3,0-Liter-Sechszylinder entscheiden. Er stellt schon bei 2000 Touren sein Zugkraftmaximum von 600 Newtonmetern bereit, beschleunigt in 6,4 Sekunden von 0 auf 100 km/h und verbraucht im Test nach EU-Norm 7,0 Liter je 100 Kilometer. Außer dieser Version zum Grundpreis von 76 900 Euro halten die Händler im XJ noch einen neuen Achtzylinder-Benziner bereit. Er holt in seiner Grundversion aus 5,0 Liter Hubraum 283 kW/385 PS heraus und mobilisiert – wenn ein Kompressor zusätzliche Kraft erzeugt – sogar 375 kW/510 PS. Der Verbrauch dieser V8 liegt im Test nach EU-Norm bei 11,4 bzw. 12,1 Liter, doch man kann sich lebhaft vorstellen, wie die Tachoanzeige reagiert, wenn der Fahrer wirklich mal allen unter der Haube versammelten Pferdchen die Sporen gibt.
Auf den ersten Blick hat sich der neue Jaguar preislich aufs Niveau der deutschen Konkurrenz aus Stuttgart und München begeben, doch diese Feststellung gilt nur, solange man die Ausstattung nicht berücksichtigt: Der XJ tritt außer mit Lederinterieur grundsätzlich auch mit Panoramadach, Xenon-Scheinwerfern, Navigationssystem und Soundanlage an, die es nicht unter 400 Watt tut. Berücksichtigt man diese und andere Details, geht die Rechnung zugunsten von Jaguar auf. Knapp bei Kasse darf ein XJ-Liebhaber jedoch nicht sein. Wer den Diesel in Bestform erwerben will, zahlt 104 200 Euro, findet vorne wie hinten beheiz- wie auch belüftbare Sitze vor und ist von 1200 Watt-Lautsprechern umgeben, lässt sich also mithin vom Vierfachen der im Basismodell installierten Leistung beschallen. Der Benziner ohne Kompressor kostet 96 600 bis 104 100 Euro, das verschwenderisch ausgestattete Flaggschiff der Baureihe, der XJ Supersport 5.0 V8 S/C, verkörpert den Gegenwert von 133 900 Euro. In Indien, dem Heimatland des aktuellen Jaguar-Besitzers, wird der XJ übrigens auch verkauft – vorerst allerdings nur in einer einzigen Niederlassung, in Mumbai, dem früheren Bombay.