Berlin, Deutschland (Weltexpress). Der Film beginnt mit der richtigen Frage. Man hört und sieht die Schüsse vor der Synagoge in Halle, den brennenden Wagen von Bönhardt und Mundlos, den ermordeten Walter Lübcke, die Nazitumulte und die Drohreden der Neonaziführer, die Verzweiflung und den Zorn der Opfer und der Antifaschisten – man muss die Frage nicht aussprechen, aber sie steht im Raum: Wo war oder ist der Verfassungsschutz?
Im Grunde zieht sich durch den gesamten Film die Frage, wie bekämpft der Verfassungsschutz das Anwachsen des »Rechtsextremismus»? Der neue Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Thomas Haldenwang, gibt munter die Parole für einen Kurswechsel seines Amtes aus: »Wir wollen ein Frühwarnsystem für die Demokratie sein.» Der Verfassungsschutz verlagere seinen Schwerpunkt vom Islamismus auf den Rechtsextremismus (vom Linksextremismus redet man konjunkturell weniger). Aber in Wahrheit zeigt der Film, dass sich die braune Pest ausbreitet, immer bedrohlicher wird – und der Verfassungsschutz ist machtlos. Der Journalist Heribert Prantl sagt im Interview mit ARTE: »Er warnt nicht früh, er warnt nicht laut genug, er warnt nicht intensiv genug…, von den Rechtsterroristen hat er lange Zeit überhaupt nichts gesehen.» Was hilft da der Abtransport von Bierfässern durch die Polizei, wenn an Hunderten Orten gerockt und gesoffen wird und Naziparolen gebrüllt werden?
Der Apparat des Verfassungsschutzes ist nach Schätzungen der Autoren des Films von 2001 bis 2020 von 2085 auf rund 4000 Personen angewachsen, seine Finanzen von 206 Millionen Euro im Jahre 2016 auf 467 Millionen im Jahre 2020. Die Kritiker können nur noch feststellen, dass der »VS» bei jeder neuen Bluttat nichts dagegen getan hat. Dann betrachtet er sich als unterbesetzt, fordert mehr Befugnisse, mehr Technik, mehr Personal, mehr Geld – er bekommt sie. Heribert Prantl meint, der VS sei ein Fremdkörper in einer Demokratie. Er solle rechtzeitig die Gefahren für die Verfassung entdecken und nicht selbst Gefahren schaffen. Ein anderer Beobachter meint sogar, dass der Verfassungsschutz selbst durch sein Netz an V-Leuten faschistische Strukturen aufgebaut hat. Man denke an den V-Mann in Kassel, der am Ort des Mordes war und nichts gesehen haben will.
Ein Hoffnungsschimmer soll der Landesverfassungsschutz in Thüringen und sein neuer Leiter Stephan Kramer sein. Der will etwas verändern, muss aber selbst miterleben, wie die Leiterin des Museums in Kloster Veßra, Uta Bretschneider, vor der Nazibande in ihrem Dorf zurückweicht und eine andere Arbeit annimmt. Weit entfernt ist der Film von einer Antwort auf die Frage, wie es weitergehen soll. Mit einem Gefühl der Ohnmacht sieht der Zuschauer, wie die braune Pest immer mehr an Boden gewinnt. Sie hat Fußvolk, Ideologen, geistige Brandstifter, »Künstler», Geldgeber, dazu Vertreter in den Parlamenten. Wie ist dem beizukommen? Der Verfassungsschutz markiert die beste Absicht, aber es wird immer schlimmer. Es gibt im Film kluge Köpfe, die die Realität klar sehen. Eine Expertin sagt, der VS sei nicht die Lösung, sondern Teil des Problems. Heribert Prantl meint im genannten Interview, der Fehler liege im System. Was der VS jetzt leiste, könne auch die Polizei erledigen. Die Lösung sieht er in einer fundamentalen Reform, in einer gründlichen, guten Struktur des Verfassungsschutzes. Andere halten das für zwecklos. Die Thüringer Landtagsabgeordnete Katharina König-Preuss (Die Linke) will den VS abschaffen.
Im Film wird ausführlich berichtet, wie der Verfassungsschutz Gefahren und Gefährter besser und früher erkennen kann. Kann das lückenlos möglich sein? Da müsste man jedem ins Herz schauen können.
Zu »Heldentaten» im Kampf gegen »Feinde» ist der Verfassungsschutz durchaus fähig. So hat er das Seine getan zum Verbot der KPD, der FDJ und anderer Organisationen und zur Verfolgung ihrer Mitglieder, zum Beispiel, indem er bei Einstellungen auf die politische Vergangenheit des Bewerbers hinwies. Anträge der Linksfraktion im Deutschen Bundestag auf Entschädigung der Kommunisten, die vom Naziregime verfolgt worden waren, wurden 2006 und 2010 abgelehnt.
Der »Radikalenerlass» von 1972 hat dem Verfassungsschutz viel Arbeit verschafft. Nur für die Zeit von 1972 bis Juni 1975 wurden an ihn 450.000 Regelanfragen gestellt, um »Verfassungsfeinde» vom Öffentlichen Dienst fernzuhalten. Allein für Lehrer wurden mehr als 1.500 Berufsverbote ausgesprochen. Unter dem schwammigen Begriff »Linksextremismus» wurde der Verband Demokratischer Juristinnen und Juristen (VDJ) jahrzehntelang als verfassungsfeindliche Organisation verdächtigt, weil auch Kommunisten Mitglied sein durften und weil seine Mitglieder Antifaschisten anwaltlich vertraten. Der Jurist und Publizist Rolf Gössner wurde seit 1970, seit seinem Studium, beobachtet und ausgeforscht, was das Verhältnis zu seinen Mandanten störte und seine Berufsfreiheit beeinträchtigte. Der Verfassungsschutz konstruierte von ihm auf 2.000 Seiten »ein denunziatorisches Feind- und Zerrbild», in dem er sich nicht wiedererkennt, wie Gössner sagt (jungeWelt vom 13.10.2020). Die Überwachung wurde erst 2011 im Zusammenhang mit einer Klage Gössners beim Verwaltungsgericht Köln eingestellt, doch noch nach 15 Jahre lang andauernden Prozessen legt die Bundesregierung Revision gegen ein Urteil ein, das Gössners Verfolgung als verfassungswidrig verurteilt hatte. Der »Nutzen» dieser Verfolgung wäre eine Antwort auf die Fragestellung des Films, doch dies Thema wird ausgespart.
Haldenwang erkennt eine wachsende Gefährdung durch rechtsextreme Gewalt. Ist die so neu? Wenn es einen Nährboden des Neofaschismus gibt und gab, waren es die alten Eliten der Altbundesrepublik. Diese Gesellschaft ist geprägt worden von Wehrwirtschaftsführern, Wehrmachts- und SS-Generalen, Blutrichtern, Gestapoleuten, NS-Journalisten, NS-Professoren und Naziaktivisten, die von Anfang an ihre Schuld vertuschten und verharmlosten und damit eine gesellschaftliche Atmosphäre des »Schwamm drüber» schufen. Eine seltene Ausnahme war der Hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer, der die Auschwitzprozesse organisierte.
Was ist es für ein Zufall, dass der verflossene Präsident des BVS, Hans-Georg Maaßen, als rechtsaußen stehend, als kühler Antidemokrat bezeichnet werden kann. Er hat, wie die Bundestagsabgeordnete Martina Renner (Die Linke) feststellt, das Parlament im Falle Anis Amri belogen (und soll es nach neuen Berichten noch tun). Der Zuschauer hört, dass es in Deutschland 130.000 Rechtsextremisten gibt, davon 13.000 gewaltorientierte. Ein weiteres Problem sind radikale Islamisten. Kann ein Verfassungsschutz das beherrschen?
Der braune Geist kann nur überwunden werden aus einem antifaschistischen Umfeld im Volke. Prantl deutet es an: »Der wahre Verfassungsschutz ist die Zivilgesellschaft, die aufmerksam ist.» Das gab es in der DDR. Davon spricht im Film keiner. Jener Staat verstand seinen Ursprung in einer antifaschistisch-demokratischen Ordnung. Arnold Schölzel schreibt in jungeWelt vom 10./11. Oktober 2020: »Antifaschismus, darüber bestand Einigkeit, hatte die wirtschaftliche Basis von Faschismus zu beseitigen und eine Demokratisierung der Wirtschaft einzuleiten.» Es gab im Volk »ein lebendiges Gedächtnis für Faschismus und dessen Urheber im Großkapital (die Propagandaphrase vom »verordneten Antifaschismus» scheint sich unter Hohn und Spott aufgelöst zu haben), eine Gesellschaft, die Internationalismus in vielen Köpfen verankerte und darüber aufklärte, wer an Krieg interessiert ist und wer nicht.» Da hatte der Schutz der Verfassung und der staatlichen Verfasstheit noch Erfolg. Wo es solchen Wandel nicht gibt, ist »der Schoß fruchtbar noch, aus dem das kroch» (Brecht). Dessen ungeachtet bietet der Film interessante Einblicke in Strukturen und ihre Fehler.
Einen Schönheitsfehler hat der Film. Es werden mehrere Beamte des Verfassungsschutzes interviewt, aber allein eine Frau wird als presseunfreundlich hingestellt. Sie beantwortet alle Fragen mit: »Dazu kann ich nichts sagen». Verraten die Männer alles?
Der Film gehört in alle Schulen. Wahrscheinlich wären harte Auseinandersetzungen zu erwarten. Der Stoff bringt es mit sich. Den »Arglosen» könnte dämmern, dass man den braunen Rattenfängern nicht folgen darf.
Filmographische Angaben
Früh.Warn.System, Dokumentarfilm von Christian Hans Schulz und Rainald Becker im Auftrag von ARTE, SWR, rbb und MDR in Zusammenarbeit mit Ventana-Film GmbH, 2020, 90 Minuten, Ausstrahlung auf ARTE heute, 22.00 Uhr, und auf DAS ERSTE am Mittwoch, 21. Oktober, 22.50 Uhr.
Anmerkung:
Ergänzte Fassung vom 21.10.2020.