Berlin, Deutschland (Weltexpress). Stürmischer Beifall mit vielen Bravo-Rufen und Standing Ovations für Nicole Heesters nach der Berlin-Premiere eines Monologs über die (Un-)Wahrheiten der Lebens- und Leidensgeschichte Jesu.
Elmar Goerden, der Regie geführt und das Stück nach dem gleichnamigen Roman des irischen Schriftstellers Colm Tóibín verfasst hat, konnte wohl nicht nach Berlin kommen, wäre hier aber sicher ebenfalls gefeiert worden, wie schon bei der Uraufführung an den Hamburger Kammerspielen im Februar letzten Jahres.
Maria packt aus, die Heilige steigt von ihrem Thron.
In einem Interview, das im Programmheft abgedruckt ist, erklärt Elmar Goerden, in der Bibel werde nichts „über den Menschen Maria“ berichtet, und das Stück fülle diese Leerstelle. „Aus ‚Maria, Mutter Gottes’ wird ‚Maria, Mutter’“.
Goerden sagt auch: „Es muss immer möglich sein, sich diese Frau beim Abwasch vorzustellen. Das ist wichtig.“ Und außerdem: „Sie ist keine Theoretikerin, keine Intellektuelle, keine Religionswissenschaftlerin. Sie denkt mit dem Bauch und fühlt mit dem Kopf.“
Wie gut, dass Elmar Goerden die Rolle trotzdem mit Nicole Heesters besetzt hat, die ihre Körperteile zweckentsprechend einzusetzen versteht und einem altbackenen Muttertyp kaum entspricht.
Mit dem Bauch hätte diese Maria ihre 90minütige Rede nicht konzipieren können. Sie hält ein gut strukturiertes Referat. Es beginnt mit einer Einleitung, in der Maria begründet, weshalb und worüber sie sprechen wird. Dann folgt der Hauptteil: Das Wirken ihres Sohnes aus der kritischen Perspektive seiner Mutter und ihre Erlebnisse bei seinem qualvollen Sterben. Am Schluss erklärt sie noch einmal, dass sie, aus den von ihr genannten Gründen, die von ihr verlangte Bestätigung der Heilsgeschichte nicht leisten kann, und sie beendet ihre Rede mit einer eindrucksvollen Pointe.
Inhaltlich bringt dieser Vortrag nichts Neues. Er enthält die bekanntesten und umstrittensten Geschichten aus der Bibel und die ebenfalls bekannte Kritik dazu.
Im Stück ist Maria nach Ephesos geflohen, wie auch in einer der zahlreichen Marienlegenden berichtet wird. In der Legende ist Maria in Ephesos von einem Kreis von Frauen umgeben. Im Stück lebt sie allein und bekommt häufig Besuch von zwei Männern, die keine nahen Verwandten von ihr sind und deren Namen sie nicht nennt. Zu ihrer Zeit wäre das mehr als unschicklich gewesen, aber vielleicht will der Autor Maria als sinnenfrohe Person zeigen, die noch bis ins hohe Alter sexuell aktiv war.
Maria sagt zwar, sie sei alt und fühle, dass sie bald sterben werde. Nicole Heesters erscheint jedoch sehr vital und gibt sich nicht gebrechlich und hinfällig. Sie sieht schön aus in ihrem langen roten Rock und dem pinkfarbenen, langärmligen, locker fallenden Oberteil. Von ihren Beschützern und Bewachern spricht sie mit leicht süffisantem Lächeln. – Aber so weit ist der Autor doch nicht gegangen.
Marias Besucher sind Jünger Jesu, die seine Geschichte aufschreiben. Genaues teilen sie ihr darüber nicht mit, und Maria kann nicht lesen, wie die meisten Menschen ihrer Zeit. Sie soll bezeugen, dass der Tod am Kreuz nicht das Ende ihres Sohnes gewesen und dass er wieder auferstanden sei.
Das kann Maria nicht, denn sie hat das nur im Traum, nicht in Wirklichkeit, erlebt, und über die Unterstellung, sie habe ihren Sohn ohne sexuellen Kontakt empfangen, kann sie nur lachen. Die Jünger konnten darüber auch nichts wissen, denn Jesus hat niemals behauptet, ihn habe eine Jungfrau geboren.
Maria fühlt sich verpflichtet, die Wahrheit zu sagen. Sie hat ihren Sohn verloren. Seinen Namen kann sie nicht aussprechen, sie nennt ihn ausschließlich „mein Sohn“ wie einen Besitz, der ihr weggenommen wurde. Über den Menschen Jesus teilt sie kaum etwas mit.
Mütter, die über ihre verstorbenen Söhne reden, pflegen sich an die Geburt ihres Kindes zu erinnern, an seine ersten Worte, an seine Spiele, sein Lachen und Weinen und an ihre eigene Freude, ihren Ärger und ihre Sorgen um dieses Kind.
Nichts davon ist im Stück zu hören. Nicole Heesters rechtfertigt diese Leerstelle, indem sie deutlich macht, dass sie über das Kind Jesus nicht sprechen kann, weil sie dann nur weinen müsste und nicht mehr sagen könnte, was sie sich vorgenommen hat.
Maria sagt, sie wünsche sich noch einmal einen Sabbat mit ihrem Sohn, so wie früher. Dabei schaut Nicole Heesters mit einem ganz intensiven Blick zur Seite und imaginiert den kleinen Jungen so deutlich, dass er tatsächlich da zu stehen scheint.
Das ist einer der eindrucksvollsten, unvergesslichsten Momente in dieser Inszenierung.
Nicole Heesters ist immer dann besonders stark, wenn sie agieren und etwas zeigen kann. Ganz am Anfang posiert sie für einen kurzen Moment als Madonna. Heesters kommt nicht herein, nachdem der Vorhang aufgegangen ist, sondern ist schon auf der Bühne, liegt ganz zugedeckt, für das Publikum nicht erkennbar, vermutlich schlafend, unter einem Tisch.
Nachdem sie aufgestanden ist, hüllt sie sich in ihre blaue Decke, und dann steht für einen Augenblick eine typische Madonnenfigur auf der Bühne. Nicole Heesters wirft die Decke sehr schnell und entschieden wieder ab, denn als Heilige präsentiert sie sich nicht an diesem Abend.
Gegen Ende des Stücks aber zeigt Nicole Heesters sich als Pietà, hockt am Boden mit ausgebreiteten Armen, als trüge sie den Leichnam ihres Sohnes, der dann wieder zum Leben erwacht.
Maria sagt, das habe sie geträumt, aber es ist erkennbar, wie sehr sie sich danach sehnt, es tatsächlich gesehen und erlebt zu haben.
Zweifellos kann Nicole Heesters spannend und lebendig erzählen. Maria bezichtigt die Jünger nicht einfach der Lüge, sondern sie quält sich mit Zweifeln, füllt ihre Sätze mit Zorn und Trauer und fragt sich, ob sie es nicht hätte verhindern können, dass ihr Sohn den Weg einschlug, der zu seinem schrecklichen Tod führte.
Ihr Sohn hatte sich verändert, wie Maria sagt. Er habe „gestelzt“ und „von oben herab“ gesprochen, sich vornehm gekleidet, sich als Gottes Sohn bezeichnet und sich mit einer Horde von „Nichtsnutzen“ umgeben. Mit seiner Mutter wollte er nichts mehr zu tun haben. Trotzdem hat Maria ihn gewarnt.
Laut Bibel hat Maria bei der Hochzeit zu Kana Jesus darauf aufmerksam gemacht, dass die Gäste keinen Wein mehr hatten und wurde daraufhin von ihrem Sohn harsch zurückgewiesen. Im Stück erzählt Maria, sie habe ihrem Sohn gesagt, dass er beobachtet werde und sich vorsehen solle. Darauf habe er geantwortet: „Frau, was habe ich mit dir zu schaffen?“
Nicole Heesters wiederholt diesen Satz zweimal mit tiefer, hohler Stimme und lässt vermuten, ihr Sohn sei betrunken gewesen und habe sich deshalb im Ton vergriffen. Über das berühmte Wunder, das er bei dieser Hochzeit vollbracht haben soll, berichtet Maria, sie habe bemerkt, dass sehr schnell neue Weinkrüge da gewesen seien, eine Verwandlung von Wasser in Wein habe sie jedoch nicht gesehen.
Ein anderes Wunder ihres Sohnes scheint Maria jedoch für wahr zu halten. Sie erklärt, Lazarus, der, wie auch in der Bibel zu lesen, gestorben war und von Jesus wieder zum Leben erweckt wurde, habe sehr bald darauf ein zweites Mal, und zwar qualvoll, sterben müssen. Sie habe Lazarus bei der Hochzeit zu Kana als leidenden Menschen gesehen.
Darüber empört sich Maria und nennt dieses Wunder ein Verbrechen gegen die Natur. Sie war nicht dabei, als Jesus dem bereits verwesenden Leichnam zu neuem Leben verhalf, weiß also gar nicht, ob das tatsächlich stattgefunden hat, aber sie tut es nicht ab wie die übrigen angeblichen Wunder. Sie nimmt es ernst, lastet es ihrem Sohn als Schuld an und rechtfertigt somit die Anklage, die vor Gericht gegen ihn erhoben wurde.
Über das Gerichtsverfahren und das Todesurteil sagt Maria nichts. Sie sagt nicht, ihr Sohn sei das Opfer von Verleumdungen und falschen Beschuldigungen gewesen. Das erwägt sie nicht einmal, wie es von einer liebenden Mutter wohl zu erwarten wäre. Aus ihrer gesamten Rede geht hervor, dass ihr Sohn sich aus Leichtsinn und Größenwahn Feinde gemacht und sein schlimmes Ende selbst verschuldet hat.
Am Schluss macht Maria ein überraschendes Geständnis: Sie weiß nichts über den Tod ihres Sohnes. Die Kreuzigung hat sie gesehen. Mit Grauen und Entsetzen hat sie die Qualen des Gefolterten miterlebt, hat sein Schreien gehört. Sie hat aber auch die Menschen wahrgenommen, die um das Kreuz herum völlig teilnahmslos alltäglichen oder grausamen Beschäftigungen nachgingen, und sie hat den Mann gesehen, der sie beobachtete. Sie wusste, dass sie in Lebensgefahr war. Deshalb lief sie davon, schlug sich in die Büsche als müsse sie mal und floh zusammen mit Menschen, die sich wohl ebenfalls bedroht fühlten.
Maria macht sich Vorwürfe, weil sie ihren sterbenden Sohn allein gelassen und seine letzten Worte nicht gehört hat. Sie kann also nicht sagen, ob noch ein Wunder geschah oder nicht, denn sie war gar nicht dabei.
Ein Wunder ist es jedoch, dass Nicole Heesters diesen manchmal langatmigen, gewaltsam gegen den Strich gebürsteten Bibelmix zum Leben zu erwecken versteht, unterschiedliche Schauplätze und Menschen sichtbar werden lässt und in spannungsvollen Pausen Geschichten hinter der Geschichte erzählt.
„Marias Testament“ von Colm Tóibín in einer Fassung von Elmar Goerden hatte am 22.09. Berlin-Premiere und ist bis zum 09.11. im Renaissance-Theater zu erleben.
Anmerkung:
Vorstehender Artikel von Hinrike Gronewold wurde unter der Überschrift „Jesus stirbt, Maria muss pinkeln und Nicole Heesters vollbringt Wunder – ‚Marias Testament‘, umjubelt im Berliner Renaissance-Theater“ am 6.11.2019 im Magazin KULTUREXPRESSO erstveröffentlicht.