Daß dann das frühe Aufstehen – für Setz um 5 Uhr morgens – herhalten mußte, um die Leseaktivitäten des Jungautors zu legitimieren, gehört eben auch zu den Notwehrreaktionen in Literatengesprächen, zu denen auch die Fragen nach dem spontanen Schreiben zu widersprüchlichen Legitimationen führen. Interessanter also die nach der Biographie, denn auch das Deutsche ist für Clemens J. Setz im gewissen Sinne sprachliche Notwehr, denn sein Vater ist ein Kärnter-Slowene, die Mutter Schwedin und sie leben in Österreich. Daß Setz dazu noch seit längerem ein Student der Mathematik ist, führte zu weiteren Verwicklungen, die der Autor souverän abschmetterte, sich über die Sucht, dauernd die Begriffe „Identität“ im Munde zu führen, leicht lächerlich machte und sein über 700 Seiten starkes Werk darin zusammenfaßte, daß es darum ginge: „wie man erträglich leben kann“. Die Lesung aus seinem Buch zeigte eine beseelte Welt, das, was wir inhaltlich und sprachlich magisches Denken nennen, was am Thema Tschernobyl, um das es ging, verblüfft oder gerade nicht, wenn man es sich recht überlegt. Ein starker Auftritt.
Nach langer Pause kam mit Kathrin Schmidt und ihrem Roman „Du stirbst nicht“ bei Kiepenheuer & Witsch, erneut Moderator Gerwig Epkes in eine Situation, daß die Autorin anders oder gar nicht antwortete. Was man verstehen konnte, denn irgendwie sprachen beide nicht dieselbe Sprache. Hatten wir gerade zuvor einen starken Auftritt erlebt, so jetzt einen stillen, der umso durchschlagender und stärker wirkte. Kathrin Schmidt hat als in der DDR groß Gewordene und sich unangepaßt durchs Leben Schlagende einfach eine selbstbewußtere Haltung, als es Vereinnahmungen herstellen könnten. Sie setzte auf klare Worte und auf ihr Buch. So spröde ihre Antworten, so beredt ihr Roman. Auch in der Lesung kamen dessen sprachliche Delikatessen zur Wirkung, ganz abgesehen davon, daß sie eine Krankheitsgeschichte – da wacht eine nach einer Hirnverletzung, die für andere den Tod bedeutet, im Krankenhaus auf und muß sich Wort für Wort und Finger für Finger in den nächsten Wochen erst einmal auf ihre eigene Person und deren Geschichte besinnen – so wenig mitleidserheischend, dafür – uns fällt kein besseres Wort als – so wahrhaftig erzählt, daß man ohne Gänsehaut nicht davon kommt, was durch die Komik, die sie ihrer Heldin Helene Wesendahl als Grundzug mitgibt, eine besondere Melange ergibt, so daß man dauernd fühlt, daß hier große Literatur stattfindet.
Stephan Thome hatte dann mit Alf Mentzer eine Art Heimspiel, weil er nicht nur aus Biedenkopf in Oberhessen kommt, sondern sein Roman „Grenzgang“, erschienen im Suhrkamp Verlag, auch dort – im Roman Bergenstadt genannt – spielt und das dortige, eben Grenzgang genannte Heimatfest zum Inhalt hat. Besser müßte man sagen, daß sich an dem alle sieben Jahre stattfindenden Fest über 28 Jahre einzelne Schicksale – im Rückblenden, im Vorgriff, in der Gegenwart, die dann immer schon Vergangenheit ist – entlangentwickeln, auseinanderentwickeln, auf jeden Fall entwickeln. Dies ist das erste Buch des in Taipeh lebenden Wissenschaftlers. Ob man diesen Abstand brauche, um über Heimat und Nähe zu schreiben, ist eine oft zutreffende Frage. Hier nicht. Denn Thome zeigte sich als überhaupt nicht neurotischer „Provinzler“, der es nicht nötig hat, Wurzeln abzustreifen und der aus der Entfernung einfach schärfer auf das blicken kann, was einem beim täglichen Miteinanderleben weniger auffällt. Darum ist sein Buch auch keine kritische Abrechnung, sondern eine Alltagsanalyse, was mit Menschen passiert, die auf engem Raum leben und sich ständig sehen und vielleicht sich gerade deshalb ferner stehen, als im Gegensatz dazu die Anonymitäten von Großstädten Menschen es leichter möglich macht, sich vorurteilsfrei und zugewandt zu begegnen.
Erheiternd, was Stephan Thome über die Verkaufszahlen seines Buches in der örtlichen Buchhandlung erzählt und wie jeder jetzt hinter jeder Figur diese und jene vermutet. Es ist eine Liebesgeschichte, zumindest am Schluß, allerdings brauchen die Protagonisten ziemlich lange, bis es dazu kommt, weshalb eben den Grenzgängen – wo dann im Wald der historisch strittige Grenzverlauf immer wieder überprüft wird, mit viel Bier im Bauch – als „kollektive Enthemmung“ die gemeinschaftsstiftende Funktion zukommt. Erstaunlich, wie sehr sich der Autor in seine Hauptperson, die alleinerziehende Mutter eines Sohnes und Krankenschwester für ihre demenzkranke Mutter, hineinzuversetzen versucht, was seine Lesung genauso zum Ausdruck brachte wie die, daß es sich um einen frisch gebackenen Schriftsteller handelt.
Zieht man ein Resümee und das will man als Besucher bei einer Veranstaltung, die dem Vorstellen der sechs Bücher der kurzen Liste dient, die am 12. Oktober im Kaisersaal des Römers zum Deutschen Buchpreisträger führt, ja auch tun, sich also einmischen in die Preisverleihung, die Bücher kaufen und lesen, um mitreden, zumindest die Auswahlentscheidungen beurteilen zu können, dann kann man an diesem Abend Zweierlei feststellen. Die Autoren stehen alle ihre Frau und ihren Mann. Erstaunlich, wie souverän sie auch öffentlich mit ihren Büchern umgehen. Das Zweite ist dann, auch wenn man nie Äpfel mit Birnen vergleichen kann, es doch bei der Prämierung des „besten“ Romans,- darum geht es ja – gewisse Spielregeln nicht außer acht lassen darf und das bedeutet, in der gleichen Liga zu spielen, sprich: einen Roman vorzulegen.
Dies bedeutet für uns, daß man weder eine so weihevolle Würdigung des Buches von Herta Müller in einer Lesung vornehmen, noch es Herta Müller überhaupt zumuten sollte, dieses ihr und uns so sehr mit Oskar Pastior verbundene Buch überhaupt in eine Konkurrenzsituation zu stellen und gleichzeitig dauernd zu betonen, daß an ihr und diesem Buch kein Weg vorbeiführe und damit der Buchpreisträger, die Buchpreisträgerin schon feststehe. Das ist unfair in doppeltem Sinne: gegenüber Herta Müller und gegenüber den anderen fünf Autoren. Herta Müller hat ein Buch geschrieben, das einen Spezialpreis verdient, in Angedenken an Oskar Pastior, aber nicht vermengt werden sollte mit dem Deutschen Buchpreis, der geschaffen wurde, um die Vielfalt der deutschen Literatur aufzuweisen und für bessere Verkaufszahlen zu sorgen, auch im Ausland, was Übersetzungen angeht. Dieses Kalkül ist bisher aufgegangen. Fragt man uns, die wir also Herta Müllers Buch außer Konkurrenz sehen und sie für eine wunderbare Sprachspürerin halten, dann sind wir am meisten überrascht und angetan von „Du stirbst nicht“ von Kathrin Müller. Sie tritt in kein Fettnäpfchen, das dieses Thema von Wiedererweckung sonst bietet, und spricht mit so herrlicher Sprachkraft, findet solche Wörter und Sätze, die genauso ins Hirn schlüpfen wie unter die Haut gehen. Man hat beim Lesen dauernd das Gefühl: „Ja, das ist Leben. Im Guten wie im Schlechten“. Und man hat dauernd das Gefühl: „Ja, das ist Literatur. Das vermag Literatur.“
Info:
Die Liste der nominierten Romane in alphabetischer Reihenfolge und ihrem jeweiligen Erscheinungsdatum sind:
– Rainer Merkel, „Lichtjahre entfernt“ im Fischerverlag, März 2009
– Herta Müller, „Atemschaukel“ beim Verlag Hanser, August 2009
– Norbert Scheuer, „Überm Rauschen“ im Verlag Beck, Juni 2009
– Kathrin Schmidt, „Du stirbst nicht“ im Verlag Kiepenheuer & Witsch, Februar 2009
– Clemens J. Setz, „Die Frequenzen“ im Residenzverlag, Februar 2009
– Stephan Thome, “Grenzgang” beim Suhrkampverlag, August 2009
Info: Ab dem 22. September 2009 werden Auszüge aus den Shortlist-Titeln in englischer Übersetzung und ein englischsprachiges Dossier zur Shortlist auf dem Internetportal www.signandsight.com präsentiert.
Die Auswahlentscheidung für den Träger des Deutschen Buchpreises findet statt am Vorabend der Buchmesse, am 12. Oktober , in Kaisersaal des Frankfurter Römer.
Weitere Informationen und Termine des Preisträgers rund um die Frankfurter Buchmesse können abgerufen werden unter www.deutscher-buchpreis.de.