Frankfurt am Main, Deutschland (Weltexpress). Am Dienstag, den 20. September 2016, erschien in der Frankfurter Rundschau ein Artikel unter der Überschrift „Im Moment haben die Vertreter der Angstrhetorik die Lufthoheit“. Der Soziologe Harald Wälzer wird dazu interviewt, wie weit die Deutsche Gesellschaft vorangekommen ist und wie sehr sie derzeit schlecht geredet wird. Ich werde den Artikel fast vollständig wiedergeben und dann meine eigene Fantasien, Bilder und eine Stellungsname abgeben.
Harald Wälzer sagt, dieses ständige Gerede von einer verängstigten Gesellschaft macht ihn inzwischen regelrecht wütend, weil es die Angst selbst hervorruft, die es behauptet. Hysterische Gesellschaft wäre deshalb der passende Begriff. Der Eindruck einer um sich greifenden Angst ist ein extrem gelungenes Marketing der Rechtspopulisten. Das Verhängnisvolle ist, dass Politik und Medien diesen Quatsch auch noch für bare Münze nehmen. Auf die Frage „Terror, sozialer Abstieg, Altersarmut – das sollen alles bloß Chimären sein?“ antwortete er: „letztlich ja“. Die Deutschen laufen doch nicht von Panikattacken geschüttelt durch die Gegend. Abstiegssorgen, ja, die gibt es zweifellos. Sie sind aber ein konstitutives Element moderner Gesellschaften, weil die Kehrseite Aufstiegschancen sind, die statische Gesellschaftsformen die Menschen nicht bieten. Und auch der Terror ist natürlich eine Bedrohung. Statistisch aber liegt sie, wie wir wissen, weit unterhalb eines simplen Haushaltsunfalls.
Die Unterscheidung zwischen ängstlich und hysterisch ist, sie macht darauf aufmerksam, dass wir ohne Sinn und Verstand auf die fiktiven Gefahren fokussiert sind. Wir stürzen uns auf reine Phantasmen, statt über wirkliche Probleme zu reden wie soziale Ungleichheit, Bildungsungleichheit, die Staatsverschuldung oder den Klimawandel. Und eine angeblich moderne, aufgeklärte Gesellschaft diskutiert wochenlang darüber, ob der Satz “ wir erschaffen das“ richtig oder falsch ist. Wie absurd ist das denn? Das ist nicht nur eine Hysterisierung, sondern auch eine Infantilisierung. Es ist absurd, weil er gar nichts, aber auch gar nichts daran finden kann, wenn jemand sagt, er oder sie möchte eine Herausforderung bewältigen, die sich nicht bewältigen lässt.
Die Angstgesellschaft, die Psychologie kennt das Phänomen der Verschiebung, wovor man eigentlich Angst haben müsste, was sich aber schwer greifen und begreifen lässt, wird verschoben auf leichter fassbare Pseudobedrohungen. Die internationalen Finanzströme zum Beispiel kann ich nicht sehen, Flüchtlinge schon. In Mecklenburg-Vorpommern sind Flüchtlinge nur selten zu sehen, umso größer schien dort die Angst gewesen zu sein. Wo keine Flüchtlinge sind, kann man sich desto besser eigene Bilder von ihnen machen. Die Veränderungsprozesse unter modernen Gesellschaften, die Globalisierung, die Digitalisierung mit ihrem Risiko für den einzelnen, überfordert und abgekoppelt zu werden, lassen sich dagegen schlecht bebildern. Mit Ausnahme derer, die am untersten sozialen Rand eben, muss in dieser Gesellschaft niemand Angst vor ihrem etwas haben, mit Einschränkungen, man kann sich fürchten, krank zu werden oder zu verunglücken. Man kann sich Sorgen, dass die eigenen Kinder schulisch auf der Strecke bleiben. Ich glaube, in Wahrheit sind es auch solche Dinge, die den Menschen zu schaffen machen. Aber doch nicht vor Flüchtlingsströmen und ähnliche Popanze. Vorurteile und Ausgrenzungswünsche gegen andere ziehen sich durch alle gesellschaftlichen Gruppen und das AfD-Personal selbst ist ebenfalls der Mittelstand.
Wir wissen aus allen verfügbaren Studien der letzten Jahrzehnte, dass etwa ein Fünftel der Gesellschaft anfällig ist für Vorurteile, Fremdenfeindlichkeit und Rassismus. Der Unterschied zu früher besteht nur darin, dass sich diese Stimmung heute über das Internet ungehemmt und gefiltert verbreiten lassen und dass es inzwischen eine Partei gibt, die das alles aufnimmt, eben die AfD. Das ist sicher keine Neonazitruppe wie die NPD, so dass man sie wählen kann, ohne sich gleich selbst wie ein Neonazi vorkommen zu müssen. Das bedeutet aber noch lange nicht, dass sie ganze Gesellschaftsangst angstgetrieben ist. Als Sozialpsychologe sagt er selbst, dass die Reaktionen auf Ängste, selbst wenn sie sehr eingebildet sein mögen, sehr real sind. Es hilft also gar nichts, wenn diese den Leuten ihrer Phantasmen vorgehalten werden. Darum müsste der Einbildung tatsächlich etwas entgegengesetzt werden. Wenn bei uns in Deutschland ein Anzugträger mit ein Stecktuch und Seidenkrawatte über die ach, so schweren Zeiten klagt, um sich anschließend in den SUV zu schmeißen und zum Barbecue am Badesee zu donnern, dann finde ich das kindisch und zynisch.
Kürzlich startete die „Initiative offene Gesellschaft„, die mit 365 Veranstaltungen bis zur Bundestagswahl in origineller Weise Gesellschaft für die Mehrheit Partei ergreift. Wie viele Menschen treten hierzulande für die Demokratie ein! Was hat sich in dieser Gesellschaft nicht alles positiv in Richtung Gleichberechtigung verändert! Wie weit sind wir beim Abbau von Ressentiments gegenüber Minderheiten vorangekommen! Ich erinnere daran, dass die großen Boulevardblätter voriges Jahr Kampagnen pro Flüchtlinge gefahren und nicht als Durchlauferhitzer für populistische Parolen gewirkt haben. Das ist doch toll! Darüber müssen wir reden, und darauf kann die Gesellschaft stolz sein. Warum lamentieren wir eigentlich die ganze Zeit über Integrationsprobleme, wo doch die Nachkriegsgeschichte zeigt, welche ungeheurer Aufnahmeleistung diese Gesellschaft vollbracht hat. Warum drehen wir den Spieß nicht einfach einmal rum und sagen, wie fantastisch die Integration von Millionen Flüchtlingen und Vertriebenen im Ergebnis gelaufen ist?
Das Problem für die Demokratie sind nicht radikale Positionen anständiger Minderheiten, sondern deren Aneignung durch die etablierten Parteien. Die CSU führt sich als Stichwortgebern der AfD auf, in der hirnrissigen Annahme, sie könnte damit bei AfD-Anhängern punkten. Zuwanderer aus dem christlich-abendländischen Kulturkreis bevorzugen zu wollen – auf so eine idiotische Idee ist ja noch nicht einmal die AfD gekommen. Während die CSU mit rassistischen Versatzstücken Marketing für die AfD betreibt, soufflieren Teile der SPD von der ehemals linken Ecke aus mit ihrem Sozialneid-Vokabular. Dieses Abdriften zweier Parteien, die klassisch zum demokratischen Spektrum gehören, halte ich für ausgesprochen gefährlich. Und völlig unbegreiflich ist mir, dass sie dabei den Einzug der AfD in den nächsten Bundestag offenbar für naturgegebenen halten – mehr als ein Jahr vor der Wahl. Sie müssen umso intensivere Anstrengungen unternehmen, die AfD politisch zu bekämpfen und ihr Wähler streitig zu machen. Ein Weg könnte es sein, die Vorteile aufzuzeigen, die unsere moderne, offene Gesellschaft bietet, und sie dazu verbessern, wo es der Mehrheit etwas bringt: zum Beispiel mit mehr Bildungsgerechtigkeit, mehr soziale Gerechtigkeit, Bekämpfung von Steuervermeidung und Lobbyismus. Die Leute sehen doch, dass darüber etwas im Argen liegt. Statt diese Ursachen von zerstörtem Systemvertrauen anzugehen, betreibt man eine schleichende Verschiebung von Normen und Sprachregelungen
Es gehört bislang nicht zum Normbestand dieser Gesellschaft, ganze Gruppen zu stigmatisieren oder sie kollektiv für bestimmte Entwicklung verantwortlich zu machen. Genau solche Argumentationsmuster schleichen und schleifen sich aber inzwischen ein:“ die Flüchtlinge“ sind schuld, „die Zuwanderer“,“ die Ausländer“… ebenso wenig war es bisher bei uns Usus, Menschen vorzuschreiben, was sie anziehen oder nicht anziehen sollen. Die Burka-Debatte ist unter diesem Gesichtspunkt ein echter Bruch. Ähnliches gilt von der erneuten Infragestellung der mühsam erkämpften doppelten Staatsbürgerschaft. Anstelle von der „Bevölkerung“ ist jetzt permanent und penetrant vom „Volk“ die Rede. Das Volk ist eine ethnische Kategorie, Bevölkerung hingegen eine soziale und politische. Frau Petrys Vorschlag, das Wort „völkisch“ wieder positiv zu verwenden, passt perfekt dazu. Hier soll ein Vokabular, das noch bis vor kurzem Tabu gewesen wäre, salonfähig gemacht werden, weil die Sprache immer auch eine Wahrnehmung der Wirklichkeit vorgibt. Die Kommentatoren haben zwar fürs erste tapfer dagegen gehalten, aber trotzdem ist so ein Begriff in der Welt und gewinnt durch das Internet lawinenartig an Dynamik. Wie das gerade läuft, ist fatal.
So, jetzt habe ich genug von Wälzer zitiert. Wenn man sich einmal vor Augen führt, welche Horrormeldungen durch die Medien, auch der seriösen oder gerade die seriösen, gehen, dann kann einem Angst und Bange werden, Kriege in Syrien oder der Ostukraine, Selbstmordattentäter, autokratische Regime, Erderwärmung durch CO2-Ausstoß, Übersäuerung und Plastikvermüllung der Meere, Dürren und Überschwemmungen, Nuklearkatastrophen und die Bedrohung davor, Hungersnöte, Abholzung von Wäldern, Massentierhaltung, Auseinanderklaffen zwischen arm und reich durch freien Lauf des Neokapitalismus, der wiederum für vieles verantwortlich ist, usw. usw. Dies sind alles reale Bedrohungen, auf die der Normalbürger mit Angst reagieren kann und muss und, die nicht verschoben sind. Vor allem, er kann nichts machen oder daran ändern oder ist sogar zwangsläufig durch das System selbst daran beteiligt.
Dann findet noch dazu der erwähnte Mechanismus der Verschiebung statt – diesen psychoanalytischen Mechanismus in die Debatte einzuführen, finde ich dringend notwendig – und dann kann sich einer – allzu verständlich – nach alten Zeiten der vermeintlichen Sicherheit sehnen. Und wenn dann noch etwas geschieht, wie das Terrorattentat wie in Berlin, dann fühlt man sich bestätigt in seinen Ängsten. Das Ganze wird verschärft, dass auch noch Heerscharen von Flüchtlingen in der Zukunft gefürchtet werden. Der Zukunftsentwurf ist entscheidend. Infolge der Verschiebung, wo nicht sichtbares, unerklärliches oder Hilflosigkeit sich breit macht, und auf sichtbares verschoben wird, erklärt sich die Angst und der Hass auf Flüchtlinge, die die vermeintliche Sicherheit gefährden. Das sind ganz normale und menschliche Mechanismen und Automatismen.
Besonnenheit ist das Ziel. Auch früher gab es schon verheerende Kriege, massenhaft Flüchtlinge, die zum Teil Gewinn bringend integriert wurden, und die meisten Flüchtlinge bleiben in ihrer Heimat oder in Grenzbereichen, jedenfalls innerhalb ihrer Kultur, und wollen gar nicht nach Europa, in unserer vermeintlich gelobtes Land. Etwa ein Fünftel der Bevölkerung sind laut Wälzer jedoch anfällig für hysterische Reaktionen. Das sind vor allem die, die schon in der Kindheit schlecht behandelt wurden, ihnen viel Angst gemacht wurde oder deren Vorbilder die Ängste selber hatten und darin das Fremde, das sie verinnerlicht haben, fürchten. Sie und diese befinden sich in allen Bevölkerungsschichten und neigen zum Konservatismus und Rechtspopulismus, das Alte bewahren. Die Zahlen, mit der die AfD gewählt wird, zeigen ein deutliches Beispiel.
Ich finde, dass Herr Wälzer das Internet und die sozialen Medien zu hoch bewertet. Er ist sein eigenes Opfer der Hysterie. Manche, vor allem die älteren, haben keinen Zugang zu den sozialen Medien oder dem Internet, lehnen Facebook oder Twitter von vornherein infolge der Hetze ab oder wissen durchaus zu differenzieren. Diesen Schmarren, der dort verbreitet wird, machen Sie nicht mit. Da kann ich aus eigener Anschauung sprechen. Aber trotzdem habe ich Herrn Wälzer so lange zitiert, weil er einen guten Einblick gibt, wie die Seelenlage heutzutage ist. Nach den Terror Attentat in Berlin über steigern sich die Politiker in Vorschlägen zur Abwehrmaßnahmen.
Es ist heutzutage gefährlicher, sich ins Auto oder aufs Motorrad zu setzen oder einen einer lebensbedrohlichen Erkrankung zu sterben, als Opfer eines Terroranschlages zu werden. Dort findet eine Verschiebung statt. Natürlich ist es wichtig, wieder die Polizei aufzustocken und dort nicht zu sparen, um ein Sicherheitsgefühl hervorzurufen. Einen Anschlag kann man letztlich nicht verhindern und muss damit leben.
Es ist letztlich notwendig, den Flüchtlingen die Grundlage zu entziehen, weswegen sie flüchten müssen. Die Gründe für die Flucht sind Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit, Kriege und Gewalt, Armut und Perspektivlosigkeit. Aber das ist äußerst schwierig, da wir selbst beteiligt sind und das in unser System passt, die Fluchtursachen zu schaffen. Wir wollen alle Auto fahren, zum eigenen Prestige möglichst dicke und schnelle SUVs, die die Umwelt vergiften mit CO2 und Stickoxiden, wollen viel und billiges Fleisch fressen, dass die Massentierhaltung fördert, möglichst billiges Tropenholz, wodurch die Wälder abgeholzt werden, neigen zu Plastikverpackungen, wodurch in den Meeren viel Plastikmüll schwimmt, möglichst billigen Strom von Atomkraftwerken. Fisch ist ja gar zu gesund, aber quecksilberhaltig? und die Meere werden leer gefischt. Und die Konzerne bedienen uns entsprechend, weil die Profitmaxime gilt.
Wir müssen alle umdenken und unser Verhalten ändern, um unsere einzigartige und einzige Welt zu retten.