Hintergrund war und ist die Absicht, das Gesamtwerk von Ingmar Bergman, dem durch die Festspiele von Cannes als Jahrhundertregisseur ausgezeichneter größten Film- und Theaterschaffende aller Zeiten, so zusammenzutragen, daß sich diese internationale Wertung in den Inhalten wiederfindet. Bergman selbst hatte diese mühselige Arbeit unterstützt und den Projektbeteiligten freien Zugriff auf sein eigenes Archiv gegeben. Uns nun ist es mit dem Ergebnis so gegangen: Kaum hatten wir begonnen, uns einzulesen, mußten wir unbedingt einige Filme sehen. Schnell erhältlich waren aber nur die späteren, aber das machte nichts, denn das war wie eine Spritze Mut, auch die anderen Kapitel mit der Neugierde zu verfolgen, die für uns viel eher aus den Filmen selbst kommt, als aus theoretischen Überlegungen. Die allerdings gibt es und zwar zuhauf. Ingmar Bergman – denn zu einem solchen Hineinvertiefen und innigem Verzwuzeln in einen einzigen Menschen über viele Tage gehört auch so eine Detektivgesinnung, herauszubekommen, was sein Geheimnis, das Geheimnis seines cineastischen Erfolges war, den – Preis hin, Preis her – vor allem seine Berufskollegen Regisseure als ihr Vorbild rühmten, ob sie nun Wim Wenders heißen oder Woody Allen oder auch Lars von Trier. Der besonders.
Also, Ingmar Bergman scheint uns eine ausgesprochene Mischung eines grundständigen Intellektuellen zu sein, der glückhaft gepaart mit Sinn für das Bild und erst recht für den Menschen zu einer neuen Einheit wurde. Denn das ergeben schon die ersten Aufzeichnungen, wie sehr sich Schauspieler von ihm geführt fühlten und eigentlich auch für ihn spielten. Er gab ihrem Spiel immer so eine Unergründlichkeit. Nichts war felsenfest und schon gar nichts so, wie es schien. Die Welt ein Rätselort und der Filmemacher der Diagnostizierer und Therapeut der Menschheit. Wenn man an den umwerfenden Erfolg von „Szenen einer Ehe“ denkt, sind das nicht mehr dahingesagte Fremdwörter, sondern Ausdruck, daß hier einer am Puls der Zeit einen Film machte, der nicht anbiedernd etwas zur Schau stellt, sondern der seziert: was passiert hier, warum entfremden sich Mann und Frau, was ist aus der bürgerlichen Ehe geworden, seit immer mehr Frauen aufbegehrende Worte im Mund führen, wo sie früher schwiegen, als Männer noch „echte Männer“ waren und Frauen „richtige Frauen“. Anstrengend ist es geworden, anstrengend für beide Geschlechter und Kampf dazu, wenn das Binnenverhältnis sich jeden Tag neu konstituieren muß. Das ist halt so. Man muß auch das Neue leben können. Schmerzen vergehen. Das gehört zum Erwachsenwerden.
Aber so weit sind wir noch nicht. Wir träumen erst noch über dem Vorwort seines besten Freundes und häufigen Mitspielers Erland Josephson. Und müssen jetzt etwas zum System des Archivs sagen, das erst einmal ungewöhnlich ist, uns aber sehr zufrieden stellt. Das mehr als voluminöse Bergman Archiv gibt der Verlag Taschen auf Englisch heraus. Das hat, denken wir, eine finanzielle Seite. In dieser englischen Fassung sind seine Lehr- und Herrenjahre nach Zeitabschnitten unterteilt, denen jeweils eine Überschrift gegeben wurde und unter der im Inhaltsverzeichnis schon die Filme angegeben sind, die in diesem Zeitrahmen von ihm gedreht wurden und sich unter dieser gemeinsamen Überschrift versammeln. Die entsprechenden Kapitel dann sind typographisch gestaltet. Es gibt eine Einleitung, die sozusagen die Überschrift inhaltlich ausführt, die Gedanken und Ideen und Kategorien entwickelt, die dazu führten vom „Zauberer“ oder vom „Zweifler zu sprechen, wobei hier die Bilder, die Aufnahmen von Ingmar Bergman ein größeres Gewicht erhalten als der Text. Das ändert sich dann, wenn die Filme dran sind. Da gibt es den Kurzinhalt und erst einmal alle Daten von der Besetzung der Rollen mit den jeweiligen Schauspieler, die Mannschaft, auch technische Daten, die unerläßlich sind und auch das Filmplakat zeigen.
Das hat uns ungeheuer fasziniert, wenn man allein das JahrhundertBergmanBuch auf die Filmplakate hin sich durchsieht. Das ist ein Ritt über den Bodensee der besonderen Art und tiefe Erkenntnis, wie sich die Zeiten und die Bilder ändern, auch über Mode und was sie mit uns anstellt. Aber wir sind ordentlich immer noch bei „Torment“ oder „Hets“, die englische Fassung bringt auch die Originaltitel und wenn wir jetzt genau wissen, daß der Film aus dem Jahre 1944 auf Deutsch „Die Hörige“ heißt, hat das mit dieser guten Idee des Verlages zu tun, wie man in Deutschland ein auf Englisch gedrucktes Werk sinnvoll den deutschen Lesern präsentiert. Es gibt zusätzlich eine leicht überdimensioniertes A 4 Kladde, in schwarzem Leinen und nicht sehr dick, die den Text auf Deutsch – leider sehr klein gedruckt – präsentiert. Das ist eine praktische und richtig gute Idee. Denn so konnten wir das dicke Ding da auf dem Tisch aufgeschlagen liegen lassen, so daß die Bilder für uns genauso gegenwärtig waren, wie für den englischen Leser, aber wir hatten den Vorteil, das wir im Schoß nur das Leichtgewicht trugen, das uns befähigte, mit Querblicken genauso schlau zu werden, aber bequemer sitzen zu können.
Und glauben Sie nur nicht, jetzt sagen zu wollen: „Ach, ich kann doch Englisch“. Das ist kein Pigeon-English, sondern drückt komplizierte Sachverhalte aus. Das kann man immer in der Muttersprache besser verstehen. Und wir finden, daß einzelne Übersetzungen auch eine Freiheit des Wortes führen, die uns gut gefällt, müssen aber zugeben, daß wir auch hölzerne Teile fanden. Neben dem Vorwort von Josephson, wo im Bild mit Bergman auch Liv Ullmann sitzt, kommen dann sieben Kapitel die sein Leben und seine Filme in der oben beschriebenen Weise einordnen. Erst ist er der „Lehrling“ von 1918 bis 1951, führt ein „Doppelleben“ von 1951 bis 1956, wird zum „Zauberer“ innerhalb von 1957 und 1961, wandelt sich zum „Zweifler“ von 1961 bis 1964, schafft 1964 „Mysterien“ bis 1977, thematisiert den „Flüchtling“ in den Jahren 1977 bis 1983 und reift schließlich von 1984 bis 2007 zum „Meister“ und inszeniert seinen letzten Film „Sarabande“. Ein Appendix bringt abschließend seine klassische Biographie, die der Autoren, Danksagungen und ein Interview mit ihm.
Nett sind schon bei der Inhaltsangabe unter die Kapiteltitel winzig kurze Synopsen gestellt, wie beim Doppelleben: „Bergman bezeichnete das Theater gern als seine Ehefrau und den Film als seine Geliebte. Anfang der Fünfziger Jahre hatte Bergman beide völlig unter Kontrolle.“ Wir haben schon davon gesprochen, daß uns das Lesen einfach so neugierig auf die Filme machte, daß wir dem nachgaben, ob wir sie nun aus der Vergangenheit kannten oder nicht. Denn das ist auch so eine Mär, daß, wenn man einen Film einmal gesehen hatte, man ihn ’kennt’. Es ist schon richtig, daß die Grundhaltung eine andere ist, ob ich einen Film, den ich ’kenne’ wiedersehe oder einen unbekannten erstmalig schaue. Am Anfang, noch besser: vor dem Film. Denn immer wieder hat man tiefe Einsichten, die angeblich gekannten nie gesehen zu haben. Das liegt einfach daran, daß die Filme gleich geblieben sind, aber wir uns verändert haben und zudem Erinnerungen etwas Trügerisches sind. Berührend auch die jungen Schauspieler, die wir erst sehr viel später und älter in den Filmen kennengelernt haben. In Großfotos sind seine Stars der Filme den nackten Filmangaben zu Beginn jedes Films gegenübergestellt. Doch, das Buch achtet darauf, dem Augenmenschen Bergman Tribut zu zahlen.
Was wir aus dem Archiv, das in der beschriebenen Weise die Filme vor uns in Wort und Bild ausgebreitet hat, gelernt haben, ist auf die vielen Ideen einzugehen, auf die vielen Nuancen zu achten, wo Worte des Regisseurs etwas über den Haufen warfen oder die Mitspieler zur Verzweiflung brachten, aber auch die Ruhe und Gelassenheit zu bewundern, mit der und in der Ingmar Bergman seinen Weg ging. Man ist nicht auf der Welt, um für andere bequem zu sein. Aber man ist durchaus auch deshalb auf der Welt, um es anderen bequem zu machen. Ingmar Bergman verstand darunter, der Aufklärung – oder auch der selbstverschuldeten Unmündigkeit zu entkommen und den Mut zu haben, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen (Kant) – Zucker zu geben und auch noch die sinnliche Qualität hinzuzugeben, die aus anderen Kraftquellen des Menschen kommt, heißen sie nun Lust oder Todestrieb.
The Ingmar Bergman Archives, hrgs. von Paul Duncan/Bengt Wanselius, Verlag Taschen 2008, mit separatem deutschen Textteil
Es handelt sich um eine Sonderausstattung, in der jedem Buch ein Original-Filmstreifen aus dem Bergmanschen Privatbesitz von Fanny und Alexander (1982) eingeheftet ist sowie eine DVD mit bisher unveröffentlichtem Dokumentationsmaterial von 110 Minuten Länge, darunter Bergmans private Super-8-Filme etc.
Wir bedienten uns beim Filmeschauen zweier Editionen. Die eine mit fünf DVDs mitsamt der Langfassung von Fanny und Alexander ist als Ingmar Bermann Edition bei Universum/Bertelsmann erschienen, die andere mit unterschiedlichen Zusammenstellungen und auch den Einzelfilmen ist eine Arthausproduktion, die sich ebenso Ingmar Bergman Edition nennt. Wir kommen auf beide Editionen, das heißt, die Filme auf den DVDs noch zurück.