Auch im Berichtszeitraum November vorn dran: die Berliner Philharmoniker mit einem Familienkonzert aus der Reihe »Kleine Helden«. Die wurde von Andrea Tober und ihrem Education–Team arrangiert, was im Zeitalter von Spiderman und der Fußballweltmeister-Superhelden gewiss schlau gewesen ist. Auch die Mini-Helden sind cool und clever, meistern die Herausforderungen des Lebens jedoch auf rundum sympathische Art und Weise. Wichtigstes Hilfsmittel bei ihren Abenteuern ist die Musik. Womit wir beim »Josa mit der Zauberfiedel« wären.
Das Instrument hat der Junge, der mit allem befreundet ist, was im Wald rings um die Köhlerhütte seines Vaters kreucht und fleucht, von einem Vogel geschenkt bekommen. Es hat die wundersame Eigenschaft, Lebewesen wachsen zu lassen. Oder auch zu schrumpfen, wenn man ein Zauberlied rückwärts spielt. Damit will Josa wohl bis ans Ende der Welt, ja bis zum Mond kommen. Unterwegs macht er die Gans einer armen Frau fett, eine Ziege groß und kräftig, verwandelt ein müdes Pferd in ein fröhliches Ponny und zaubert schließlich einen bösen König einfach weg. Kein Kind, kein Erwachsener kann den – von der einfühlsamen Erzählerin Proschat Madani aufgefordert – unter, neben, hinter seinem Sitzplatz im Kammermusiksaal entdecken. Aber niemand vermißt ihn wirklich. Zu sehr sind alle von der bewegenden Geschichte und von der bezaubernden Aline Champion (Josa) und ihrem Geigenspiel berührt. Als dann tatsächlich ein großer leuchtender Mond aufgeht und zur vor- und rückwärts gefiedelten Melodie zu- oder abnimmt, und als schließlich gar hunderte gelber Luftballons ins Publikum schweben, erfüllt Hochstimmung den Saal.
Ausgedacht hat sich das Märchen Janosch, der Vater der natürlich allen bestens bekannten Tigerente. Die kurzweilige Musik, die sowohl für Jan Schlichte und sein Schlagzeug als auch für Holger Groschopp am Klavier Bravourstückchen bereithält, schrieb Wilfried Hiller. Zum Erfolgsteam gehören auch Janet Kirsten (Bühnenbild) und Susanne Würmell mit ihrer Glasharfe. Diesem außergewöhnlichen Instrument hätte man gern länger zugehört.
In mehr als sieben Jahren perfekt aufeinander eingespielt: die Mitarbeiter vom Kulturradio rbb, die Musiker des Deutschen Symphonie-Orchester Berlin und Radiomoderator Christian Schruff, der Mann im leuchtend roten Oberhemd. Sie haben die Kräfte gebündelt, um gemeinsam ihren Bildungsauftrag umzusetzen und junge und noch jüngere Menschenkinder für Musik und ganz speziell für die klassische zu interessieren. Denn es kann nicht oft genug wiederholt werden: die Musik ist unsterblich, die Zuhörer sind es nicht. Man muss sich kümmern! Die drei Institutionen haben sich geeinigt, im 8-Wochen-Abstand im Großen Sendesaal des Funkhauses in der Masurenallee in öffentlicher Veranstaltung ein Musikstück bzw. ein Instrument vorzustellen. Im November konnten sie zum 55. kulturradio-Kinderkonzert laden. Chapeau! Es stand unter dem nicht sonderlich spannenden Titel »Wo die Felder duften« und machte eine gewohnt erwartungsfrohe Kinderschar und ihre Eltern mit der Arlesienne-Suite von Georges Bizet bekannt. Zunächst unterlegte Schruff, dem der Spaß am direkten Kontakt mit seinen Zuhörern anzusehen war, die ersten musikalischen Takte mit den Worten »Georges Bizet, das war der Komponist von diesem Ohorwurm, von diesem Ohorwurm.« So kann man sich eine Melodie »merken«. Das kam an. Begeistert übte das Publikum und sang das Ganze schließlich sogar als Kanon. Die folgende amouröse Geschichte um den Burschen, der sich nicht entscheiden kann für die Hübsche aus dem Städtchen Arles oder eine Dorfschöne, überforderte einen Teil des Publikums und langweilte einen anderen. Im Ohr bleiben wird die Musik – von Lancelot Fuhry dirigiert und von den Musikern wie immer hingebungsvoll für die Kinder gespielt. Und allen, die aus diesem oder jenem Grunde nicht dabei sein können, wenn erzählt wird »Wo der Weihnachtsmann wohnt« (21.12.14), »Wo die Harfe rauscht« (15. 2.15), »Wo sich Sprachen verwirren« (19.415) und »Wo Mozart Klavier spielte« (17.6.15), seien die traditionellen Übertragungen von kulturradio rbb (immer sonntags, 8.04 Uhr) empfohlen.
Die Komische Oper schickt zur Verkürzung der Wartezeit auf die Weihnachtsgeschenke das »Gespenst von Canterville« auf die Bühne. Oscar Wildes Bestseller, vom Librettisten Michael Frowin »zeitnah« aufgemotzt, wurde vom Berliner Komponisten Marius Felix Lange vertont. Statt der alljährlichen speziell für Kinder und mit aktiver Teilnahme des Kinderchors eingerichteten Märchenoper (noch immer in bester Erinnerung und im Programm des Hauses: »Die Schneekönigin« und »Des Kaisers neue Kleider«) also eine Gruseloper. Die erfüllt mit phantastischer Ausstattung (Paul Zoller), prächtigen Konstümen (Gideon Davey), einer temperamentvoll gespielten Musik (Musikalische Leitung: Kristiina Poska) und aktionsreicher Inszenierung (Jasmina Hadziahmetovic) alle hohen Erwartungen, die längst an die Inszenierungen des Hauses in der Behrenstraße gestellt werden. Nur so recht gruseln will keinem. Selbst die kleinsten Besucher lachen lauthals über das arg ramponierte Schlossgespenst und sein mit Beilen, Stricken, Messern malträtiertes Gefolge, über einen Blutquell im Parkett, klappernde Ritterrüstungen, funkensprühenden Theaterdonner und eine menschengroße Ratte, die die glühenden Augen rollt, wenn sie nicht gerade als Kaminvorleger herhalten muss. (In der Pause, wo sie sich auf dem Rand des Orchestergrabens räkelt und von jedermann kraulen läßt, macht sie weitere Punkte.) So etwas kennen die Kinder aus dem Fernsehen. Von der Musik sind die Jüngsten möglicherweise überfordert. Aber alle amüsieren sich prächtig.
Der leicht trottelige Immobilienmakler aus Berlin (Carsten Sabrowski) sowie seine mit unendlich langen Beinen ausgestattete, überkandidelte Assistentin für Schreibtisch und Bett (Adela Zaharia), aktuelle Besitzer des Schosses Canterville, wollen daraus ein modernes Erlebniscenter machen. Ein Gepenst (Tom Erik Lie) kommt ihnen da gerade recht. Das jedoch will nichts als seine Ruhe und endlich erlöst werden. Was des Immobilienmaklers mitleidiges Töchterlein (Alma Sadó), obwohl heftig in den Sohn (Johannes Dunz) der Hausdame (Christiane Oertel) verknallt, prompt erledigt. Sie alle bekommen am Ende verdienten Beifall. Den lautesten Bravorufe gelten den respektlosen Zwillingssöhnen (Stephan Witzlinger /Fabian Guggisberg), die auf Scatern durch die Szene flitzen, mit Konfetti-MGs um sich ballern und ihre gereimten Texte rappen. Denn so sehen Vorbilder aus.
Nächste Vorstellungen: 4.12., 7.12., 26.12.
Die Erinnerung an das musikalische Erlebnis kann man – wie in den Vorjahren – mit einem Kinderbuch nach Hause tragen. Joëlle Tourlonias hat Oscar Wildes Klassiker für den Verlag Jacoby & Stuart mit detailreichen und warmherzigen Bildern voller Hell-dunkel-Effekte gestaltet.
Wie immer ganz in ihrem Element: die Berliner Symphoniker beim Konzert für die ganze Familie. Über viele Jahre und lange bevor die Kollegen anderer Berliner Orchester sich intensiver um Nachwuchs für aktive Musiker und Musikkonsumenten bemühten, hatten sie vor Ort Schulkinder mit ihren Instrumenten vertraut gemacht, gemeinsam mit ihnen musiziert und am Sonntag Nachmittag Konzerte für Vater, Mutter, Kinder gestaltet. Das hat der Senat vor zehn Jahren durch Streichung aller Zuschüsse beendet. Mit Hilfe einer Zuwendung der Lotto-Stiftung Berlin kann das Orchester es sich seit gut zwei Jahren leisten, sogenannte »integrationsfokussierte« Familienkonzerte auszurichten. Die stellen Musik der Länder in den Mittelpunkt, aus denen viele hungrige und fleißige Menschen nach Deutschland gekommen sind und noch kommen. Viele von ihnen, oft ganze Familien und immer zahlreiche Kinder, die sich in Berlin schon zu hause fühlen, sitzen im Publikum und genießen sichtlich altvertraute Melodien, applaudieren den Symphonikern, ihrem Chefdirigenten Lior Shambadal und selbstverständlich den Gästen – Instrumentalisten, Tänzern, Akrobaten – aus den Heimatländern. In bester Erinnerung: die Konzerte mit türkischen, vietnamesischen, russischen Klängen, alle immer gut besucht. Ein voller Erfolg auch die jüngste Veranstaltung, die der Musik aus dem Nachbarland Polen gewidmet war. Viele Nachbarn waren in Bussen angereist, »Bajka – ein Wintermärchen« von Stanislaw Moniuszko und den »Zauberlehrling« von Paul Dukas zu hören und um die Tänzerinnen und Tänzer der Staatlichen Ballettschule Poznan zu erleben, die in ihre farbenprächtigen, alten Nationaltrachten nachempfunden Kostümen ein Fest für die Augen boten. Allen Beteiligten, dazu zählen auch der EURYTH Kinder- und Jugendchor vom Staatlichen Gymnasium Frankfurt/Oder sowie Erzähler Steffen Müller, der für seine kindgerechten und auch akustisch verständlichen Ausführungen (weil nicht selbstverständlich) gelobt werden soll, ist für ihren Beitrag zur Völkerverständigung zu danken.
In den nächsten Konzerten für die ganze Familie werden Musik aus Japan (18.1.15), die Europäische Erstaufführung »The Beatles Guide to the Orchestra« von Sam Hyken (19.4.15) und Werke norwegischer Komponisten (17.5.15) zu hören und zu erleben sein.
Wie es weitergeht, wenn die Fördermittel der Lottostiftung verbraucht sind, wissen Lior Shambadal und Intendant Jochen Thärichen noch nicht. Eine erfolgreiche musikpädagogische Arbeit, die zudem einen wichtigen Sozialisierungbeitrag für Kinder und Jugendliche leistet, und die auch zum Unterhalt der Musiker beiträgt, wird ignoriert. Und dies in einem der reichsten Länder der Erde, das überall in der Welt »Verantwortung übernehmen« will. Zu hause anfangen!