(Ich könnte „Ost-Jerusalem“ geschrieben haben – aber das historische Jerusalem ist im heutigen Ost-Jerusalem. Alle andern Teile wurden erst in den letzten 200 Jahren von jüdischen Siedlern gebaut oder arabische Dörfer der Umgebung sind willkürlich dem riesigen Areal angeschlossen worden, das jetzt nach der Besetzung Jerusalem genannt wird.)
In dieser Woche stand Jerusalem wieder in Flammen. Zwei Jugendliche aus Dschebel Mukaber, einem der annektierten arabischen Dörfer, betraten während des Morgengebets eine Synagoge im Westen der Stadt und töteten vier fromme Juden, bevor sie selbst von der Polizei getötet wurden.
Jerusalem wird „Die Stadt des Friedens“ genannt. Das ist ein linguistischer Fehler. In der Antike wurde sie zwar Salem genannt, das wie Frieden klingt, aber Salem war tatsächlich der Name der lokalen kanaanäischen Gottheit.
Es ist auch ein historischer Fehler. Keine Stadt der Welt hat so viele Kriege, Massaker und Blutvergießen erlebt wie diese.
Alles im Namen irgendeines Gottes.
Jerusalem wurde unmittelbar nach dem Sechs-Tage-Krieg, 1967, annektiert (oder „befreit“ oder „vereinigt“).
Dieser Krieg wurde Israels größter militärischer Triumph. Er war auch Israels größtes Unglück. Der göttliche Segen des unglaublichen Sieges verwandelte sich in göttliche Strafe. Jerusalem war ein Teil davon.
Die Annexion wurde uns – ich war damals Knesset-Mitglied- als eine Wiedervereinigung der Stadt dargestellt, die im israelisch-palästinensischen Krieg von 1948 grausam auseinander gerissen worden war. Jeder zitierte den biblischen Satz: „Jerusalem ist eine Stadt, in der man zusammenkommt.“ Diese Übersetzung von Psalm 122 ist ziemlich merkwürdig. Das hebräische Original sagt einfach: „eine Stadt, die fest vereinigt ist“.
Was 1967 tatsächlich geschah, war alles andere als Vereinigung.
Wenn wirklich die Absicht bestanden hätte, es zu vereingen, hätte dies sehr anders ausgesehen.
Die volle israelische Staatsbürgerschaft wäre automatisch allen Bewohnern gegeben worden. Alle verlorenen arabischen Besitztümer in Westjerusalem, die 1948 enteignet wurden, wären ihren rechtmäßigen Besitzern, die nach Ostjerusalem geflohen waren, zurückgegeben worden.
Der Jerusalemer Stadtrat wäre erweitert worden, um die Araber aus dem Ostteil zu integrieren, auch ohne spezielle Bitte. Und so weiter.
Das Gegenteil geschah. Kein Besitz wurde zurückgegeben, noch eine Kompensation gezahlt. Der Stadtrat blieb ausschließlich jüdisch.
Die arabischen Bewohner bekamen keine israelische Staatsbürgerschaft, sondern nur „ein permanentes Wohnrecht“. Dies ist ein Status, der jeden Moment willkürlich zurückgezogen werden kann – und in vielen Fällen widerrufen wurde; wobei man die Opfer zwang, aus der Stadt auszuziehen. Um den Anschein zu wahren wurde es Arabern erlaubt, die israelische Staatsbürgerschaft zu beantragen. Die Behörden wussten natürlich, dass dies nur ein paar tun würden; denn wenn sie das getan hätten, hätten sie die Besatzung anerkannt. Für die Palästinenser hätte dies Hochverrat bedeutet. (den wenigen, die den Antrag stellten, wurde er gewöhnlich verweigert.)
Das Gemeindeamt wurde nicht erweitert. Theoretisch sind Araber berechtigt, bei den Gemeindewahlen ihre Stimme abzugeben, aber nur wenige taten dies – aus denselben Gründen. Praktisch blieb Ost-Jerusalem ein besetztes Gebiet.
Der Bürgermeister Teddy Kollek wurde zwei Jahre vor der Annexion gewählt. Eine seiner ersten Aktionen danach war, dass er das ganze marokkanische Viertel neben der Klagemauer abreißen ließ und so einen großen leeren Platz schuf, der einem Parkplatz ähnlich sah; die Bewohner, alles arme Leute, wurden innerhalb weniger Stunden vertrieben.
Aber Kollek war ein Genie, was public relations betraf. Er knüpfte anscheinend freundliche Beziehungen mit arabischen bekannten Notablen, führte sie mit ausländischen Besuchern zusammen und schuf so den allgemeinen Eindruck von Frieden und Zufriedenheit. Kollek baute mehr neue israelische Stadtteile auf arabischem Land als jede andere Person im Land. Doch dieser Meister des Siedlungswesens sammelte fast alle Friedenspreise der Welt außer dem Friedens-Nobelpreis. Ost-Jerusalem blieb ruhig.
Nur wenige kannten eine geheime Direktive von Kollek: er instruierte alle Gemeinde-Behörden, darauf zu achten, dass die arabische Bevölkerung – damals 27% – nicht diese Grenze überschritt.
Kollek wurde geschickt von Moshe Dajan, dem damaligen Verteidigungsminister, unterstützt. Dajan glaubte, dass, wenn er den Palästinensern alle möglichen Vergünstigungen gäbe, außer der Freiheit, sie sich ruhig verhalten würden.
Ein paar Tage nach der Besetzung Ost-Jerusalems nahm er die israelische Flagge, die von Soldaten vor dem Felsendom auf dem Tempelplatz gehisst worden war, weg. Dajan gab auch die de facto Autorität des Tempelberges den muslimisch religiösen Behörden.
Juden war es erlaubt, nur in kleinen Gruppen und nur als ruhige Besucher auf dem Tempelplatz zu sein. Es war ihnen verboten, dort zu beten; sie wurden zwangsweise entfernt, wenn sie ihre Lippen bewegten. Sie konnten schließlich an der anschließenden Westmauer, die ein Teil der antiken Stützmauer des Tempelplatzes war, nach Herzenslust beten.
Die Regierung war wegen einer kuriosen religiösen Tatsache in der Lage, diesen Erlass zu geben: Orthodoxen Juden war es von den Rabbinern verboten, den Tempelplatz als Ganzes zu betreten. Nach einer biblischen Vorschrift ist es gewöhnlichen Juden nicht erlaubt, das Allerheiligste zu betreten. Da heute keiner weiß, wo genau dieser Ort war, betreten fromme Juden den ganzen Platz nicht.
Als Folge davon waren die ersten paar Jahre der Besatzung für Ost-Jerusalem eine glückliche Zeit. Juden und Araber bewegten sich frei. Es war für Juden üblich, im bunten arabischen Markt einzukaufen und in den orientalischen Restaurants zu speisen. Ich blieb oft in arabischen Hotels und freundete mich mit einer Anzahl Arabern an.
Ganz langsam veränderte sich die Atmosphäre. Die Regierung und das Gemeindeamt gaben viel Geld aus, um Westjerusalem zu verbessern, aber die arabischen Stadtteile in Ost-Jerusalem wurden vernachlässigt und wurden so zu Slums. Die lokale Infrastruktur und städtischen Dienste verfiel. Arabern wurde fast keine Baugenehmigung gegeben, um die junge Generation zu zwingen, sich außerhalb der Stadtgrenzen anzusiedeln. Als die Trennungsmauer gebaut wurde, wurde diesen sogar verboten, die Stadt zu betreten und schnitt sie so von ihren Schulen und Arbeitsstellen ab. Doch trotz allem wuchs die arabische Bevölkerung und überschritt die 40%.
Die politische Unterdrückung wurde immer stärker. Nach dem Oslo-Abkommen wurde den Jerusalemer Arabern erlaubt, für die palästinensische Behörde ihre Stimme abzugeben. Aber dann wurden sie daran gehindert, dies zu tun; ihre Vertreter wurden verhaftet und aus der Stadt vertrieben. Alle palästinensischen Institutionen wurden zwangsweise geschlossen, einschließlich des berühmten Orienthauses, wo der viel bewunderte und geliebte Führer der Jerusalemer Araber, der verstorbene Faisal al-Husseini, seinen Amtssitz hatte.
Kollek wurde von Ehud Olmert und einem orthodoxen Bürgermeister abgelöst, der sich einen Teufel um Ost-Jerusalem kümmerte, abgesehen vom Tempelberg.
Und dann geschah ein zusätzliches Disaster. Säkulare Israelis verlassen die Stadt, die sehr schnell zu einer orthodoxen Bastion wird. Aus Verzweiflung entschieden sie sich, den orthodoxen Bürgermeister abzusetzen und einen säkularen Geschäftsmann zu wählen. Leider ist er ein fanatischer Ultra-Nationalist.
Nir Barkat benimmt sich wie der Bürgermeister von West-Jerusalem und der militärische Gouverneur von Ost-Jerusalem. Er behandelt seine palästinensischen Untertanen wie Feinde, die toleriert werden, solange sie sich ruhig verhalten und unterdrückt sie brutal, wenn sie das nicht tun.
Zusammen mit den seit Jahrzehnten vernachlässigten arabischen Stadtteilen, dem beschleunigten Tempo des Bauens von neuen jüdischen Stadtteilen, der maßlosen Polizei-Brutalität (offen vom Bürgermeister ermutigt) – alles zusammen schafft eine explosive Situation.
Die totale Trennung Jerusalems von der Westbank, seinem natürlichen Hinterland, verschlimmert die Situation noch mehr.
Dem kann noch die Beendigung des sog. Friedensprozesses hinzugefügt werden, zumal alle Palästinenser davon überzeugt sind, dass Ost-Jerusalem die Hauptstadt des zukünftigen Staates Palästina werden muss.
Diese Situation brauchte nur noch einen Funken, um die Stadt zu entzünden. Er wurde rechtzeitig von den Demagogen des rechten Flügels in der Knesset geliefert. Um Aufmerksamkeit und Popularität wetteifernd, begannen sie, den Tempelberg zu besuchen, einer nach dem andern, und jedes Mal lösten sie einen Sturm aus. Dem muss noch der offensichtliche Wunsch von gewissen religiösen Fanatikern des rechten Flügels hinzugefügt werden: den dritten Tempel anstelle der heiligen Al-Aqsa-Moschee und des Felsendoms zu bauen. Dies war genug, um den Glauben zu schaffen, dass die Heiligen Schreine in Gefahr seien.
Dann kam der grauenhafte Rachemord an einem arabischen Jugendlichen, der von Juden entführt und lebendig verbrannt wurde, indem ihm Benzin in den Mund geschüttet wurde.
Einzelne moslemische Einwohner der Stadt begannen zu handeln; sie verachteten Organisationen, fast ohne Waffen begannen sie eine Reihe von Angriffen, die nun die „Intifada der Individuen“ genannt wird. Sie handelten allein oder mit einem Bruder oder Cousin, dem sie vertrauten. Ein Araber nimmt ein Messer oder einen Revolver (falls er einen erhält) oder seinen Wagen oder Traktor und tötet die nächsten Israelis. Er weiß, dass er sterben wird.
Die beiden Cousins, die in dieser Woche in einer Synagoge vier Juden – und einen arabisch-drusischen Polizisten töteten – wussten dies. Sie wussten auch, dass ihre Familien würden leiden müssen, dass ihr Haus zerstört werden wird, ihre Verwandten verhaftet. Das hielt sie nicht von der Tat ab. Die Moscheen waren wichtiger.
Überdies wurde ein Tag zuvor ein arabischer Busfahrer in seinem Bus aufgehängt vorgefunden. Gemäß der Polizei bewies die Autopsie, er habe Selbstmord begangen. Ein arabischer Pathologe folgerte, er sei ermordet worden. Kein Araber glaubt der Polizei – die Araber sind davon überzeugt, dass die Polizei immer lügt.
Unmittelbar nach dem Mord in der Synagoge machte sich der israelische Chor der Politiker und Kommentatoren auf, zu handeln. Sie taten dies mit einer erstaunlichen Einmütigkeit – Minister, Knesset-Mitglieder, Ex-Generäle, Journalisten wiederholten mit leichter Variation dieselbe Botschaft. Der Grund dafür ist einfach: das Büro des Ministerpräsidenten schickt jeden Tag eine „Seite mit Botschaften“ hinaus und unterrichtet so alle Teile der Propagandamaschinerie, was zu sagen ist.
Dieses Mal lautete die Botschaft, Mahmoud Abbas sei an allem schuld, „ein Terrorist im Anzug“, der Führer, dessen Hetze die neue Intifada verursacht. Es macht nichts, dass der Chef des Shin Bet noch am selben Tag sagte, Abbas habe weder offen noch verdeckt Verbindungen zu der Gewalt.
Benjamin Netanjahu stand den Kameras mit einem feierlichen Gesicht und gefasster Stimme gegenüber – er ist ein wirklich guter Schauspieler – und wiederholte , was er schon viele Male vorher gesagt hatte, jedes Mal gab er vor, dies sei ein neues Rezept: mehr Polizei, härtere Strafen, Zerstörung der Häuser, Verhaftungen und hohe Geldstrafen für Eltern von 13-Jährigen, die Steine werfen und so weiter.
Jeder Experte weiß, dass die Folge solcher Maßnahmen genau das Gegenteil erreichen wird. Mehr Araber werden in Wut gebracht und greifen israelische Männer und Frauen an. Israelis werden natürlich „Rache nehmen“ und „das Gesetz in ihre eigenen Hände nehmen.“
Für Bewohner wie Touristen ist das Gehen durch Jerusalems Straßen – in der Stadt, in der man „zusammen kommt“ – zu einem riskanten Abenteuer geworden. Viele bleiben zu Hause.
Die unheilige Stadt ist geteilter als je zuvor.
Anmerkungen:
Vorstehender Artikel von Uri Avnery wurde aus dem Englischen von Ellen Rohlfs ins Deutsche übersetzt. Die Übersetzung wurde vom Verfasser autorisiert. Unter www.uri-avnery.de erfolgte kürzlich die Erstveröffentlichung. Alle Rechte beim Autor.