Die Idee, einen Chor als einzigen Protagonisten auf die Bühne zu stellen, klingt erst einmal gar nicht verlockend, noch dazu, wenn der Chor aus 25 Frauen besteht, die sich kritisch mit dem Frauenbild der katholischen Kirche auseinandersetzen. Für Polen mag das Thema ja aktuell sein, aber in Deutschland, wo der Feminismus schon lange mit dem vorgesetzten Post der Vergangenheit zugeordnet wird, ist es längst abgehakt.
Beim Schreiben von „Magnificat“ habe sie zunächst ausschließlich an Polen gedacht, sagt die Regisseurin und Sängerin Marta Górnicka, die mit zwei ihrer Arbeiten bei Foreign Affairs zu Gast war. Später habe sie jedoch feststellen können, dass sich das Bild der unterdrückten, entstellten Frau überall in Europa zeigt: „Eine Frau ist entweder ein körperloses Sein oder ein Körper zum Gebrauchen.“
So wie die Frauen in „Magnificat“ sich präsentieren, haben Feministinnen der 70er Jahre sich gefühlt wenn sie verkündeten „Gemeinsam sind wir stark“ und den Frauen ihre Würde zurückgeben wollten, obwohl sie nicht imstande waren, das auch physisch überzeugend zum Ausdruck zu bringen.
Marta Górnicka steht im Publikum und dirigiert. Vor ihrem ersten Einsatz bei „Magnificat“ formt sie mit den Händen über dem Kopf das Symbol der befreiten Frauen. Der Chor beginnt mit einem anfangs geflüsterten Gebet zur Jungfrau Maria und endet mit dem schön gesungenen Magnificat.
Die Texte zu verfolgen, ist schwierig ohne Polnischkenntnisse, denn die Frauen auf der Bühne nehmen den Blick so gefangen, dass es kaum möglich ist, die deutschen Übertitelungen sorgfältig zu lesen. Dieser Chor ist keine uniforme Masse, sondern besteht aus sehr starken Individuen, alle barfuß, aber unterschiedlich gekleidet. Gemeinsam können sie sehr laut werden, jedoch nicht als kreischende Weiberhorde, sondern mit gut abgestützten, immer angenehmen Stimmen, die etwas mitzuteilen haben. Die Frauen artikulieren auf unterschiedlichste Art, alle zusammen, in kleinen Grüppchen oder auch ganz allein, bewegen sich in einer faszinierenden Choreografie über die Bühne.
Wunderbar ist die Ironie in dieser Performance. Die Frauen schauen entschlossen und herausfordernd ins Publikum. Sie beklagen sich nicht und sie jammern nicht, sie entlarven die Klischees, die ihnen als Vorbilder dienen sollen, das unerreichbare Ideal der Jungfrau Maria oder das der sich aufopfernde Hausfrau, als lächerliche Hirngespinste.
Marta Górnicka gibt die Einsätze, dirigiert die Bewegungen, formt Wortbildungen mit den Händen, läuft mit den Frauen auf der Stelle, ist über die Entfernung hinweg ein Teil des Chors, in dem es keine Hierarchien gibt, in dem jede Einzelne als unverwechselbare Persönlichkeit in Erscheinung tritt und in dem die Gemeinschaft die individuellen Besonderheiten verstärkt anstatt sie auszulöschen.
Die Idee, den Chor für die Bühne ganz neu zu entdecken, verbindet Marta Górnicka mit dem Anliegen, denen eine Stimme zu verleihen, die am wenigsten Stimme haben. „Magnificat“ ist Górnickas zweite Arbeit mit Frauen, die bei internationalen Gastspielen mit Preisen ausgezeichnet und gefeiert wurde. Auch das Berliner Publikum reagierte mit Standing Ovations und begeistertem Applaus.
Nicht weniger erfolgreich war Marta Górnickas Inszenierung „Requiemaszyna“, die ebenfalls bei Foreign Affairs zu erleben war. Hier geht es um Arbeitslosigkeit, soziale Probleme und die Kälte in einer Gesellschaft, die immer mehr von der Technik bestimmt wird. Die Texte basieren auf Gedichten des polnischen Lyrikers Wladyslas Broniewski aus den 1930er Jahren.
In dieser Produktion stehen Frauen und Männer auf der Bühne, gleich entrechtet, ausgegrenzt und ausgebeutet. Sie sind bedrohlich, wenn sie sich wie Automaten bewegen, erschütternd, wenn sie hörbar werden lassen, wie entsetzlich laut Schweigen sein kann und wirken hoffnungslos verloren, wenn die Gruppe sich zerstreut und Einzelne ganz allein da sitzen.
Auch hier besteht der Chor aus Individuen, die auch dann nicht zu einer grauen Masse werden, wenn sie von gemeinsamen Erfahrungen berichten, von den Ketten, die sie geschmiedet haben und an die sie dann gebunden, von den Gefängnissen, die sie gebaut haben und in die sie eingesperrt werden.
Die Ironie, die Marta Górnicka auch in dieser Inszenierung wirkungsvoll einsetzt, schmälert nicht die Tragik und das Aufbegehren, die durch Broniewskis Texte vermittelt werden, sondern macht sie verständlicher, nachvollziehbarer. Das Denken wird herausgefordert durch die Brechung der Emotionen.
Dieser Chor, das sind nicht nur Geschundene und Aufständische, das sind auch Menschen, die es sich in ihrer Resignation fast bequem gemacht haben und die sich für Politik nicht interessieren, ganz normale Menschen wie viele im Publikum, die spannende Unterhaltung wollen anstatt ermüdender politischer Diskurse.
Spannend und unterhaltsam sind Marta Górnickas Inszenierungen auf jeden Fall. Ihre Chöre liefern hoch professionelle Präzisionsarbeit. Trotzdem sind es Menschen, die auf der Bühne stehen und, jenseits von Dogmatismus und Schuldzuweisungen, zu Empathie einladen.