Ovadias Wahl

Rabbi Ovadia Yosef, Screenshot von Bilder-Sammelsurium auf Google vom 14.10.2013. © WELTEXPRESS

Hier war der Mann, von dem ich träumte: der charismatische Führer der orientalischen Juden, ein Mann des Friedens, der Vertreter moderater religiöser Traditionen.

„Rabbi Ovadia“, wie ihn alle nannten, der in dieser Woche im Alter von 93 Jahren starb, wurde in Bagdad geboren, kam als 4Jähriger Junge nach Palästina und gewann als religiöser Gelehrter hohe Achtung. Während des 48er Krieges war er der Oberrabbiner von Ägypten, später der sephardische Oberrabbiner von Israel. Als seine Ernennung wegen einer obskuren politischen Intrige nicht wiederholt wurde, gründete er eine neue politische Partei, die Shas, die schnell eine Kraft in der israelischen Politik wurde.

Er zog meine Aufmerksamkeit das erste Mal auf mich, als er, im Gegensatz zu den meisten andern prominenten Rabbinern, entschied, dass das jüdische religiöse Gesetz, die Halachah, erlaubt, Teile von Erez Israel um des Friedens willen herzugeben. Das „Retten von Leben“ hat Priorität.

Bevor wir weiterfahren, lasst mich einige Ausdrücke erklären. Die Ausdrücke „sephardisch“ und „orientalisch“ werden oft verwechselt. Aber sie bedeuten nicht ganz dasselbe.

Sepharad bedeutet „Spanien“. Sephardische Juden sind die Nachkommen der Juden, die von ihrem katholischsten Königspaar Ferdinand und Isabella 1492 aus Spanien vertrieben wurden. Fast alle von ihnen scheuten das christliche antisemitische Europa und siedelten in Ländern unter wohlwollender muslimischer Herrschaft von Marokko bis Bulgarien.

Das ottomanische Reich gründete sich auf ein System von „millets“, religiös-ethnische Gemeinschaften, die sich unter ihren eigenen Führern, Gesetzen und nach den eigenen Traditionen selbst regierten. Die Juden wurden im ganzen Reich von dem Hakham Bashi, dem Oberrabbiner regiert, der natürlich ein Sepharde war. Dies war eine säkulare Ernennung – nach jüdischem Gesetz gibt es keinen Oberrabbiner, keinen jüdischen Papst. Alle Rabbiner sind gleich – jeder Jude kann dem Rabbiner eigener Wahl folgen.

Als die Briten Palästina übernahmen, waren sie dazu bewegt auch einen ashkenasischen Oberrabbiner zu ernennen. Seitdem haben wir zwei Oberrabbiner in diesem Land, einen sephardischen und einen ashkenasischen; jeder hält die Tradition seiner Gemeinde aufrecht.

Doch die große Mehrheit der Juden aus islamischen Ländern sind keine Sepharden. Heute wollen sie lieber Orientalen (Mizrachim) genannt werden. Doch die Termini Sepharde und Orientale überschneiden sich und bekamen mehr oder weniger dieselbe Bedeutung.

Die Anzahl der Leute, die an dem Begräbnis von Rabbi Ovadia teilnahmen, sind auf 800 000 geschätzt worden – mehr als die ganze jüdische Bevölkerung am Gründungstag des Staates Israel. Selbst wenn man annimmt, dass diese Zahl weit übertrieben ist, so war dieses Ereignis außerordentlich. Jerusalem war praktisch blockiert; der Leichenwagen konnte kaum den Friedhof erreichen.

All diese Hunderttausende – alle Männer – trugen die „Uniform“ der orthodoxen Juden – schwarze Gewänder, weiße Hemden, große schwarze Hüte. Viele weinten und jammerten – es grenzte an eine Massenhysterie.

Die Trauerreden der religiösen und weltlichen Führer und Kommentatoren waren voll Superlative. Er wurde der größte sephardische Jude der letzten 500 Jahre genannt, ein „Großer der Thorah“, dessen Lehren noch in die nächsten Jahrhunderte hinüber wirken würden.

Ich muss gestehen, dass ich nie ganz seine Größe als Denker, ob religiös oder sonst wie verstanden habe. Er erinnerte mich immer an etwas, das Yeshayahu Leibowitz einmal zu mir sagte, dass die jüdische Religion vor 200 Jahren gestorben sei und nichts als leere Rituale hinterlassen habe.

Rabbiner Ovadia schrieb 40 Bücher, Beurteilungen und Interpretationen des religiösen Gesetzes. Während ashkenasische Rabbiner gewöhnlich dahin tendieren, mit religiösen Anordnungen härter zu verfahren, tendierte Josef dahin, es leichter zu machen. In diesem folgte er der orientalischen Tradition, die immer viel moderater war (wie bis vor kurzem der Islam)

Josef erlaubte Witwen von gefallenen Soldaten, wieder zu heiraten (eine komplizierte Prozedur nach der Halakhah). Er entschied, dass die äthiopischen Falashen Juden sind und deshalb die Erlaubnis haben, nach dem Rückkehr-Gesetz nach Israel zu kommen. In zahllosen individuellen Fällen machte er es für die Leute einfacher, strengen Einschränkungen auszuweichen. Da in Israel große Bereiche privater Angelegenheiten, wie Heirat und Scheidung, nach dem religiösen Gesetz von Rabbinern geregelt werden, war dies auch für säkulare Leute sehr wichtig.

Aber ein tiefer Denker? Ein moderner Weiser? Da habe ich meine Zweifel. Wie ein Kommentator es wagte, darauf hinzuweisen, hat der neue Papst in wenigen Monaten mehr getan, um die theologische und soziale Einstellung seiner Kirche zu ändern, als Ovadia in seiner Lebenszeit. Das Reformjudentum hat weit mehr getan, um das Judentum zu modernisieren

Aber meine anfängliche Würdigung und endliche Enttäuschung mit diesem Rabbiner betreffen keine religiösen Fragen.

Rabbi Ovadia war eine überragende Persönlichkeit in der israelischen Politik. Fast die Hälfte aller israelischen Bürger ist orientalischen Ursprungs. Bis zu seinem Erscheinen waren sie eine unterprivilegierte Klasse, weit entfernt von den Zentren der Macht, oft gedemütigt, ganz uneinig. Alle Versuche, sie in eine politische Kraft zu verwandeln, misslangen elendiglich.

Und dann kam der Rabbiner. Er gründete eine machtvolle Partei, die oft als Schiedsrichter in der israelischen Politik diente. Er gab den Orientalen ihre verlorene Würde zurück. Er vereinigte sie. Das war eine große Errungenschaft.

Aber wozu? Ich hatte gehofft, wenn einmal die orientalischen Juden ihre Selbstachtung zurückgewonnen hätten, würden sie sich an ihre Vergangenheit erinnern, an das Goldene Zeitalter der jüdisch-muslimischen Zusammenarbeit und Zusammenleben im mittelalterlichen Spanien, als die jüdische Dichtung in der arabischen Sprache blühte, als der große religiöse Denker Moses Maimonides der persönliche Arzt von Saladin war, dem muslimischen Heerführer, der die Kreuzfahrer vernichtete.

Mit dieser Hoffnung wählte ich Josefs Schützling und politischen Bannerträger Aryeh Deri, der in Marokko geboren wurde; er war wie sein Meister ein Mann des Friedens und sprach sich öffentlich für eine Übereinkunft mit den Palästinensern aus.

Aber der Traum löste sich in nichts auf. Die Shas-Partei wandte sich immer mehr dem rechten Flügel zu und unterstützte ihre extreme antiarabische Politik. Der Rabbiner, ein großer Experte im Fluchen auf Arabisch und Hebräisch, verfluchte die Araber genauso wie seine jüdischen Opponenten. (Einmal verkündigte er, dass am Todestag von Shulamit Aloni für ihn ein Festtag sein werde. Aloni, eine linke Führerin, feierte Josefs Todestag nicht).

Es gibt viele Gründe – psychologische und soziologische dafür, dass die orientalische Gemeinde anti-arabisch und gegen Frieden eingestellt ist. Es ist nicht nur Josefs und Deris Schuld. Aber sie taten nichts dagegen. Im Gegenteil, sie liefen mit der Menge indem sie den Prozess noch beschleunigten.

Rabbi Ovadia beherrschte die Shas- Partei wie ein Papst, wählte ihre Führer aus und – setzte sie ab –ganz wie er wollte. Die Partei hat keine demokratische Institution, keine interne Wahlen. Der Rabbi traf alle Entscheidungen selbst. Indem er sich dem antiarabischen Chor anschloss, beging er eine schwere Sünde – obwohl er nie sein Urteil aufhob, die besetzten Gebiete aufzugeben, um Leben zu retten.

Da er zur Partei der Unterdrückten gehörte, hätte man erwarten können, dass Shas wenigstens die führende Rolle im sozialen Protest übernehmen würde.

Und tatsächlich sprachen Rabbi Ovadia und seine Untergebenden endlos über das Elend der orientalischen Massen, über die Armen und Behinderten. Aber im realen Leben taten sie absolut nichts, damit dieses Elend durch die Regierungspolitik, durch soziale Reformen, durch Stärkung des Wohlfahrtsstaates u.ä. gelindert werde. Tatsächlich klagten ihre Gegner sie an, absichtlich ihre Wählerschaft in Unwissenheit und Armut zu belassen, um sie so in einem Zustand der Abhängigkeit zu lassen.

Die nüchterne Tatsache ist, dass Ovadia und seine Partei ihre beträchtliche politische Macht für Erpressung ausnutzten, um aus der Regierung immense Geldmengen für ihr unabhängiges Bildungssystem und für nichts anderes herauszuziehen. Dieses System erstreckt sich vom Kindergarten bis in die höheren Talmudschulen. In ihnen wird nichts weiter als heilige Texte gelehrt. Etwa so, wie in den muslimischen Koranschulen. Ihre Absolventen sind nicht in der Lage, sich der arbeitenden Bevölkerung anzuschließen. Natürlich dienen sie auch nicht in der Armee.

Am Tag nach der Beerdigung, als Benjamin Netanjahu seinen Kondolenzbesuch bei der Familie machte, sprachen die Söhne nicht über Frieden und Sozialreformen mit ihm. Sie sprachen mit ihm nur über die bösen Absichten, dass ihre Kinder in der Armee dienen müssen.

Böse Zungen sprachen über die Kontrolle von Josefs Familie über ein riesiges privatwirtschaftliches Empire, das sich auf die Koscher-Bestätigungsindustrie gründete. Bewunderer von Rabbi Ovadia bestanden darauf, dass ihre Lebensmittel von einer seiner Vertrauenspersonen als streng koscher abgesichert wurden – natürlich gegen einen Preis. Niemand weiß, wie viel Kapital sich bei diesem Josef-Familien-Empire angesammelt hat.

Für nicht-orthodoxe jüdische Israelis, die noch die Mehrheit darstellen, war Rabbi Ovadia eine exzentrische und sogar eine liebenswürdige Persönlichkeit.

Das Fernsehen liebte seine Art und Weise, wie er die Gesichter seiner hohen oder niedrigen Besucher sozusagen liebevoll betatschte. Seine Flüche sind ein Teil der Folklore geworden (Einmal nannte er Netanjahu eine „blinde Ziege“).

Seine Kleidung machte ihn unverwechselbar. Auch nachdem er den Posten des Sephardischen Oberrabbiner aufgeben musste, bestand er darauf, bis zum Ende den Hut mit goldener Borte zu tragen wie die türkische Uniform dieses Büros.

Wie die meisten Führer dieses Typs hinterlässt er keinen Nachfolger. Es gibt keinen zweiten Rabbi Ovadia, und es wird für lange Zeit keinen geben. Eine Autorität auf persönlicher Führung, Charisma und Gelehrsamkeit benötigt Jahrzehnte. Kein Kandidat ist in Sicht. Selbst das Überleben der Shas-Partei unter Deri ist nicht gesichert.

Für mich ist es eine traurige Geschichte. Israel braucht einen großen sephardischen Führer, der in der Lage ist, die Massen für Frieden und sozialen Fortschritt zu mobilisieren. Ich hoffe nur, dass er noch vor dem Messias kommt.

Anmerkungen:

Vorstehender Artikel von Uri Avnery wurde aus dem Englischen von Ellen Rohlfs übersetzt. Die Übersetzung wurde vom Verfasser autorisiert. Die Erstveröffentlichung erfolgte und datiert nach Angaben auf der Website www.uri-avnery.de vom 11.10.2013.

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