Anfangs fehlt ihm die Distanz zum deutschen Gedöns, mitunter hat man den Eindruck, er könne sich einen gewissen Patriotismus nicht verkneifen. Nur sehr mühselig entwickelt sich (auch wegen des großen Verreckens, das einige seiner Künstlerfreunde trifft) eine kritische Distanz zur deutschen Kriegspropaganda und der alte Mühsam tritt wieder zu Tage. Auch wenn er nachträglich einige seiner patriotischen Entgleisungen retuschiert hat, ist das Buch trotzdem ein brillantes Zeitdokument, das uns einen intimen Blick in die einstigen Schwabinger Künstlerkreise und Köpfe gewährt. Mühsam wird wegen seiner schwächlichen Konstitution nicht eingezogen und ist auch nicht so wahnsinnig, sich freiwillig zur Verfügung zu stellen. Da München Männerleer ist, bekommt er die eine oder andre Maus in die Kiste, er ist ein Kriegsgewinnler der ersten Stunde. Spaß beseite: Sein Anarchismus kommt direkt aus dem Herzen, er ist weniger ein Anarchismus der Tat. Mühsam greift nicht zur Waffe, sondern zum Schreibgriffel, um die Verhältnisse anzugreifen und bloß zu stellen. Lesenswerter Kopfdünger allemal.
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Chris Hirte, Conrad Piens (Hrsg.), Erich Mühsam, Tagebücher, Band 03, 1912-1914, 423 Seiten, Verbrecher Verlag, Berlin, 2012, 28 Euro