Etwa ein Viertel sind Mitglieder der Genossenschaft, die für ihr Alter eine bequemere Wohnung haben wollen. Drei Viertel sind neue Interessenten, die ebenfalls bessere Wohnbedingungen suchen. Sie kommen zum großen Teil aus den umliegenden Dörfern – und das ist die Kehrseiteder Medaille. Dort sind die Lebensbedingungen in den letzten 20 Jahren immer schlechter geworden: keine Arbeit mehr, kein Konsum, keine Post, weite Wege zum Einkaufen und vor allem zum Arzt. Deshalb zieht es viele in die Stadt, wo Ärzte, Pflegedienste und Behörden näher sind. Viele verkaufen ihr Haus im Dorf und kaufen sich gerne mit 2 000 bis 4 000 Euro Geschäftsanteilen in eine Wohnungsgenossenschaft ein.
Der Wohnungsgenossenschaft kommt das sehr gelegen, denn sie braucht auch für ihre Mitglieder neue Wohnungen in zentraler Lage. Andererseits veröden die Dörfer, denn nicht nur die Alten wollen weg, sondern die Jungen sind schon lange weggezogen. Das macht den Kommunalpolitikern zu schaffen. Der Tag vor der Grundsteinlegung war gerade wieder so ein schwarzer Tag gewesen. Auf dem Marktplatz demonstrierten die Pflegedienste gegen die Kürzung ihrer Mittel für die Alten- und Krankenpflege. Denen stand der Bürgermeister Arne Schuldt (parteilos) hilflos gegenüber. Denn er verfügt nicht über die Haushalte des Landes oder der Krankenkassen.
Spannung lag in der Luft, wie der Schweriner Volkszeitung zu entnehmen war. Denn nun, als es etwas zu feiern gab, erschienen zwei Staatssekretäre, Jan Mücke (FDP) vom Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung und Stefan Rudolph (CDU) vom Wirtschaftsministerium der Landesregierung Mecklenburg-Vorpommern. Schuldt machte in seiner Ansprache seinem Ärger Luft, dass die Politiker selbst einen Vorwand für Mittelkürzungen schaffen, indem sie das Aussterben der Region suggerieren, um zum Beispiel die Gebietsreform durchzusetzen. Es sei etwas Wahres dran, aber was täten die Politiker »von oben« dagegen? Jene verteidigten sich mit der Städtebauförderung für Güstrow und speziell für diesen Neubau. Es war ein echter Krach in aller Öffentlichkeit. Schockiert war der Vorstandsvorsitzende der AWG, Norbert Karsten, worüber er im Gespräch mit dem Autor noch immer zürnt. Da würde ich ihn trösten. Es schadet der Genossenschaft gewiss nicht, wenn ihre Grundsteinlegung zum Forum der öffentlichen Auseinandersetzung über die Zukunft der Region gerät. Dass die Genossenschaft hilft, Bürger der Stadt und des Umlandes mit guten und bezahlbaren Wohnungen zu versorgen, beweist allein das große Interesse der Wohnungssuchenden.
Was die Genossenschaft in den 56 Jahren ihres Bestehens geleistet hat, ist achtbar. Gegründet 1956 von Arbeitern der Reichsbahn, wurde sie rasch durch den Zusammenschluss mit zwei anderen Genossenschaften zu einer begehrten Adresse. Im Wohnungsbauprogramm der DDR wurden in Güstrow 1976 bis 1982 2 500 Wohnungen gebaut. Davon erhielt die AWG 1 300. In die »Wende« ging sie mit 2 700 Wohnungen. Und da begannen die Sorgen. Wie alle Wohnungsbaugenossenschaften der DDR hatte auch die Güstrower Genossenschaft Kredite aufgenommen, deren Bedienung zu erpresserischen Bedingungen nun die (West-)Banken verlangten. Um die Altschuldenhilfe in Anspruch nehmen zu können, entschied sich die AWG für den Verkauf von 409 Wohnungen. Das nächste Problem war die Zerschlagung der volkseigenen Betriebe und die Abwanderung vieler Menschen. Zum Beispiel sank die Zahl der Beschäftigten im Landmaschinenbau Güstrow von 2 000 1990 auf gegenwärtig 150. Eine der größten Zuckerfabriken wurde 2008 abgerissen. Die Einwohnerzahl Güstrows schwandt von 39 000 im Jahre 1990 auf 29 238 2011, um fast ein Viertel. Die AWG hatte zeitweise einen Leerstand von 10 Prozent und musste Häuser mit 280 Wohnungen abreißen. Gleichzeitig mussten die verbleibenden Häuser saniert werden, um sie noch gut vermieten zu können. Inzwischen hat die Genossenschaft einen Modernisierungsgrad von 90 Prozent erreicht bei einer Nettokaltmiete von 4,74 Euro je Quadratmeter und Betriebskosten von 1,93 Euro je Quadratmeter im Jahre 2011. Für die neuen Wohnungen werden im Durchschnitt 6,50 Euro nettokalt zu zahlen sein. Trotz aller Probleme erwirtschaftete die AWG stets einen Bilanzgewinn und zahlte ihren Mitgliedern ein oder zwei Prozent Dividende auf ihre Geschäftsanteile. Mit 2 155 Wohnungen hat sie einen Anteil von 12,6 Prozent am Wohnungsbestand der Stadt (zum Vergleich: in Berlin sind es 12 Prozent, in Dresden 23 und in Sachsen 13 Prozent).
Die Pflege der Wohnungsbestände verlangt ein ständiges Ausbalancieren sich kreuzender Interessen. Zum einen werden die Mitglieder immer älter – der Durchschnitt liegt bei 55 Jahren – zum anderen ziehen junge Familien gerne ein, wenn die Wohnungen groß genug, aber nicht zu teuer, und wenn Kindergärten und Schulen gut erreichbar sind. Für die Älteren werden ganze Aufgänge alters- und behindertengerecht umgebaut, oder sie ziehen ins Erdgeschoß. Um die Wohnungen im 3. und 4. Stock vermieten zu können, werden sie jungen Familien für 2,50 bis 3 Euro je Quadratmeter angeboten. Für Hartz-IV-Empfänger werden billige, unsanierte Wohnungen vorgehalten. Gleichzeitig gibt es Bedarf an hochwertigen Wohnungen und an Wohnungen in zentraler Lage. »Wir möchten jedem eine Wohnung anbieten können,« sagt das Vorstandsmitglied Brigitte Kornmesser. Man beschloss, im Zentrum Güstrows neue Wohnungen zu bauen oder zu kaufen. Bisher hat die Genossenschaft 96 Wohnungen gebaut und 32 gekauft. Hinzu kommt nun der Komplex »Sonnenhof« an der Stelle des abgerissenen Hotels »Zur Sonne«. 1,3 Millionen Fördermittel aus dem Programm »innerstädtisches Bauen« konnte die AWG erlangen. Schuldt schätzt es, dass »sie das Zentrum entdeckt hat«. Während der Planung explodierten die Kosten und stellten den Bau in Frage. Dreimal stimmte die Vertreterversammlung darüber ab, 2008, 2011 und endgültig im Mai 2012.
Die Güstrower Genossenschaft hat ein Problem für sich entschieden, das anderswo für Ärger sorgt, aber ein Licht auf das komplexe Denken eines Vorstands wirft. Die Nettokaltmiete von 6,50 Euro je Quadratmeter für die neuen Wohnungen deckt die Baukosten nicht. Höher will der Vorstand aber nicht gehen, um in einem der sozialen Lage der Mitglieder angemessenen Verhältnis zu bleiben. Es geht ihm auch darum, im Zentrum der Stadt präsent zu sein, was auch für die Bewohner Vorteile bringt. Woher aber das Geld nehmen? Eine Reserve, die jeder Vermieter hat, sind die Mieten nach der Modernisierung. Da elf Prozent der Kosten auf die Miete umgelegt werden dürfen, sind die Kosten nach neun bis zehn Jahren abgezahlt, und es entsteht ein Überschuß, den die Genossenschaft für einen sozialen Ausgleich verwenden kann. Das ist besser, als Fußballklubs zu sponsern. Anderswo denkt man da anders. In der Ersten Wohnungsgenossenschaft Pankow war der Modernisierungszuschlag von 2004 bis 2011 von 1,50 Euro je Quadratmeter auf 2,50 Euro gestiegen. Die Mieter, die später mit der Modernisierung dran waren, mussten für die gleiche Leistung zwei Drittel mehr zahlen. Die Betroffenen forderten eine Kappung der Modernisierungsumlage. Das löste in der Vertreterversammlung Empörung aus: »Sollen wir eure Miete mitbezahlen?« Solidarität für die durch die höheren Baupreise Benachteiligten gab es nicht. Auch Härtefallregelungen wurden abgelehnt.
Nun wird in der AWG Güstrow gebaut. Die neuen Bewohner dürfen sich freuen, die Genossenschaft auch. Dennoch bleibt das Problem. Die Stadt hat Zuzug, was den Bürgermeister freuen könnte, aber gleichzeitig veröden die Dörfer. Ist die Genossenschaft daran schuld? Sie reagiert auf den Trend, doch der Mangel an Arbeit, Einkommen und Infrastruktur liegt in der verfehlten Politik des Anschlusses der DDR. Eine Gemeinschaft kann ihren Mitgliedern gute Dienste leisten. Dass das Große und Ganze stimmt, hängt jedoch von den gesellschaftlichen Verhältnissen ab. Da liegt das Problem, von dem viele Politiker nichts wissen wollen.