„Hat Moses Urlaub gehabt?“ – „Die Politiker kommen und gehen, aber die Berliner Symphoniker sind da“ – Ein Gespräch mit Lior Shambadal

Sie sind jetzt 15 Jahre Chefdirigent der Berliner Symphoniker. Und Sie sind der einzige ehrenamtliche Chefdirigent in Berlin. Haben Sie sich selbst eingespart?

Das waren andere. Wir sind ein ganz normales Orchester, eines von acht in Berlin, und ich bin einer von mehreren Chefdirigenten.

Aber Sie haben recht, es war ein Bruch, als der Senat uns 2004 die Subventionen gestrichen hat. Es war das Ende der normalen Zeit. Wir mussten unsere 25 Konzerte im Jahr auf acht reduzieren. Es gab auch eine Phase des Chaos oder des Niedergangs, wo  selbst ich nicht mehr geglaubt habe, dass es weitergeht. Aber ich musste vor das Orchester treten und sagen: »Wir machen weiter.« In jeder Situation muss man eine Alternative finden. Mein Weggang wäre falsch gewesen, denn die Berliner Symphoniker leben in einem europäischen Musikzentrum. Es wäre schade gewesen, diesen Platz zu verlieren. Der Vorstand, der Intendant Jochen Thärichen und ich haben einen Weg zur Weiterführung gefunden. Wir konnten die Situation verbessern dank der Qualität des Orchesters und unserer Beziehungen im Ausland. Wir finanzieren unsere Konzerte in Berlin über Tourneen nach Japan, China, Korea und andere Länder. In Japan haben wir sechsmal 14 bis 15 Konzerte gegeben. In sieben bis acht Jahren haben wir in China und Japan 200 Konzerte gehabt. In Europa machen wir »Abstecher« nach Spanien, Frankreich und Italien.

Geholfen haben uns auch unsere Abonnenten, weil sie geblieben sind, und neue sind hinzugekommen.

Und Ihre persönliche Situation?

Ich bekomme Honorare für die Konzerte, ein Viertel der normalen Gage, die andere Arbeit – Planung, Engagements – mache ich umsonst. Mehrere Jahre war ich Chefdirigent des Rundfunksinfonieorchesters Ljubljana und des Philharmonischen Orchesters in Bogota. Das habe ich sehr genossen. Ich dirigiere Orchester in Europa und Asien. Ich habe überlegt, ob ich wieder ein zweites Orchester übernehmen sollte, aber der Chef muss drei bis vier Monate anwesend sein. Das könnte ich nicht.  Mein Pensum ist: 4 Monate für die Berliner Symphoniker, 6 Monate für Gastdirigate und zwei Monate in Israel für meine Kinder und für Konzerte. Mein Leben hier finanziere ich mit der Arbeit mit anderen Orchestern. Ich mache das gern, man kann es nicht finanziell bemessen.

Hat es Ihnen als Künstler geschadet?

Natürlich. Es war ein professioneller Schock, weil man im Ausland denkt: das Orchester wird geschlossen, während Shambadal der Chef war. Irgendwie ist man gezeichnet. Aber es war meine eigene Entscheidung zu bleiben. Ich habe eine Verantwortung für die Musik, weil jeder Tag ohne Musik ein verlorener Tag ist. Wir werden mehr und mehr anerkannt, wir haben volle Säle, beim Requiem von Verdi im Berliner Dom zum Beispiel mussten viele draussen bleiben. Bei der 4. Sinfonie von Mahler im November waren viele Kollegen von anderen Orchestern da. Die Presse interessiert sich wieder für uns. Wer Musiker im Herzen ist, muss spielen. Als Junge hatte ich das Üben satt und habe meinem Vater gesagt: »Ich brauche Urlaub.« Hat er gesagt: »Hat Moses Urlaub gehabt?«

Fühlen Sie sich gleichberechtigt mit den anderen Chefdirigenten?

Nein. Ich bin Chefdirigent von einem Orchester, das es regierungsoffiziell nicht gibt. Wenn wir nicht weitergemacht hätten, würden sich manche in der Politik freuen. Ohne Mäzene und Staat könnte keine Kunst existieren. An sich sollte der Berliner Senat jedes Jahr einen Dankesbrief an die Regierungen in Japan und China schicken, dass sie die Berliner Symphoniker finanzieren.

Fühlen Sie sich unter den Berliner Orchestern noch zu Hause? Gibt es eine Solidarität?

Ich fühle mich absolut im Stich gelassen. Es wäre möglich gewesen, die staatlichen Zuschüsse für das Orchester zu retten, wenn die Chefdirigenten gesagt hätten: »Wenn die nicht spielen, spiele ich auch nicht. Ich blockiere den ganzen Betrieb.« In Großbritannien war das möglich. Hätten die Berliner Philharmoniker mitgemacht, wäre die Sache nach zwei Wochen vom Tisch gewesen. Ihr Benefizkonzert war gut gemeint, doch man braucht Hilfe vorher, nicht nachher. Es klingt nach Mitleid: »Die Armen haben jetzt nichts mehr.«  Solidarität wollten die Opernorchester und das Konzerthausorchester leisten durch einen Gehaltsverzicht von 12 Prozent, aber der damalige Kultursenator wollte keinen Anteil hinzugeben. So ist das gescheitert.

Ist das Beharrungsvermögen des Orchesters nicht indirekt ein Erfolgsmodell des Berliner Senats, dass man auch mit Dumpinglöhnen arbeiten kann? Wenn es quietscht, wie sich Herr Wowereit ausdrückt?

Es war viel Dummheit und Unwissen bei der Entscheidung des Senats, uns die Mittel zu streichen. Sie glaubten, mit ihrer Klage in Karlsruhe auf Anerkennung einer Haushaltsnotlage Erfolg zu haben, wenn man sogar ein Sinfonieorchester streicht. Man hat uns die Hände abgehackt. Wir waren ein Opfer, doch es hat nichts genützt.

Aber es ist schlimmer. Es war Untreue an der eigenen Kultur. Oder gibt es kulturelle Verbrechen, wie Verbrechen am Frieden? Ich möchte nicht mit dem Gewissen dieser Politiker leben müssen. Ein politisches System, das so funktioniert, hat keine Zukunft.

Wenn wir nach Argentinien oder China kommen, wird ein Grusswort des Oberbürgermeisters von Berlin verlesen: wir wären die musikalischen Botschafter Berlins. Ein Hohn. Mit dem Hohn muss er leben, nicht ich.

Ich habe in den 15 Jahren mehrere Kultursenatoren gehen sehen. Die Politiker kommen und gehen, aber die Berliner Symphoniker sind da, ich bin da und die Musik ist da. Wir halten die Kultur am Leben. Wir tun, was wir müssen.

Wie sehen Sie die Zukunft Ihres Orchesters? Wird es Bestand haben? Um welchen Preis? Haben Sie Nachwuchssorgen?

Das Orchester hat eine beispiellose Flexibilität bewiesen. Einige Musiker haben den Beruf aufgegeben, andere sind zu anderen Orchestern gegangen, aber der größte Teil ist uns treu geblieben, aus eigener Entscheidung. In meinen 15 Jahren sind wir eine Art musikalische Verbindung eingegangen, die zu einer persönlichen Bindung geworden ist. Wir haben einen festen Stamm und eine feste große Besetzung. Viele junge Musiker sind zu uns gekommen. Wir sehen einen Erfolg und eine Steigerung.

Aber sie werden schlechter bezahlt als in anderen Orchestern. Können Sie das verantworten?

Verantworten kann ich es nicht. Ich bin nicht glücklich damit. Ich muß ihnen die Entscheidung überlassen. Es ist uns gar nicht anders möglich. Die Musiker wollen nicht nur Geld. Natürlich wollen sie besser leben, aber sie wollen auch künstlerischen Erfolg. Sie freuen sich über die Tourneen in Japan und China, auch wenn es harte Arbeit ist. Wir spielen in den berühmtesten Sälen der Welt. Sie fühlen sich anerkannt und sind stolz darauf. Für mich ist die künstlerische Erfüllung das Wichtigste.

Mit der Förderung der Berliner Klassenlotterie haben Sie ein gemeinsames Projekt mit dem Konservatorium für türkische Musik begonnen: Konzerte für die ganze Familie. Zwei Konzerte haben Sie schon veranstaltet. Wie behagt Ihnen die Zusammenarbeit? Geben Sie ihr eine Perspektive?

Es ist eine sehr interessante Arbeit, die europäische Kunstmusik mit der Musik anderer Völker zu verbinden. Die Grundidee, neue Werke zu komponieren, die andere Kulturen vorstellen, finde ich sehr gut. Wir wollen Einflüsse anderer musikalischer Kulturen aufnehmen und verarbeiten. Das ist nicht Integrieren in die deutsche Kultur. Davon halte ich nichts. Das türkische Konservatorium ist sehr potent. Es macht nicht nur türkische Musik, sondern Weltmusik, arabische, indische, Jazz. Wir wollen auch zu anderen Nationalitäten gehen und gemeinsame Projekte machen.

Zum ersten Mal haben wir jetzt von der Klassenlotterie eine Zuwendung bekommen, Geld, das wir nicht selbst verdient haben. Uns könnten weitere Projektmittel helfen. Wir könnten in den Konzerten für die ganze Familie pro Jahr drei neue Kompositionen von außereuropäischen Kulturen aufführen. Wir würden gerne Werke für türkische Kinder spielen, mit kleinen Gruppen wieder in die Schulen gehen. Wir haben Ideen ohne Ende. Dazu brauchten wir eine Anschlussfinanzierung.

Anmerkungen:

Konzert der Berliner Symphoniker am Sonntag, 19.2.2012, 16.00 Uhr, Philharmonie, Leitung Lior Shambadal. Das Interview in gekürzter Fassung wurde am 15. Februar 2012 in »Neues Deutschland« veröffentlicht.

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