Berlin, Deutschland (Weltexpress). Mit dem am 19. Juli im Alter von 80 Jahren verstorbenen Generalsekretär der Kommunistischen Partei Vietnams, Nguyen Phu Trong, verliert die Sozialistische Republik Vietnam einen Theoretiker von Format. Ein Nachruf des Zentralkomitees der KPV, des Präsidenten To Lam, der Regierung, der Nationalversammlung und der Vaterländischen Front würdigte ihn als einen außergewöhnlichen Führer, standhaftes Mitglied der Kommunistischen Partei, ein leuchtendes Beispiel, der im Geiste der Ideologie und Moral von Ho Chi Minh wirkte. Im Mai 2021 hatte er in der Parteizeitung „Nhan Dan“ in einem viel beachteten Beitrag herausgearbeitet, dass die sozialistische Revolution die einzige Form der sozialen Umwälzung zu einer von Ausbeutung freien Gesellschaft unter Führung der Kommunistischen Partei ist. Der Beitrag war eine umfassende, tiefgehende und sorgfältige Analyse des seit dem Sieg der Augustrevolution 1945 eingeschlagenen Weges, die davon zeugte, dass der Sohn eines Bauern seiner sozialen Herkunft verbunden blieb. Mit dem Sieg der Augustrevolution 1945 wurde die ein Jahrhundert vorher über Vietnam errichtete französische Kolonialherrschaft beseitigt und mit der Gründung der Demokratischen Republik Vietnam (DRV) die staatliche Unabhängigkeit wieder hergestellt. Die Augustrevolution war die erste siegreiche nationale Befreiungsrevolution in einem kolonial unterjochten Land unter Führung der Arbeiterklasse mit ihrer kommunistischen Partei an der Spitze. Diese Revolution geht seitdem, wie Phu Trong darlegte, Schritt für Schritt den Weg der sozialen Befreiung in der einzig möglichen Form, der des Übergangs zur sozialen Umwälzung, die bis heute ihrem Inhalt nach eine sozialistischen Revolution ist. Diese Revolution verstand, sich zu verteidigen, was hieß, dass sie den Versuch des französischen Imperialismus, Vietnam erneut seinem Kolonialjoch zu unterwerfen im neuen achtjährigen Befreiungskampf (1946-1954) erfolgreich abwehrte. Als die USA 1956 die Nachfolge Frankreichs antraten und über Vietnam ihre neokoloniale Herrschaft errichten wollten, brachte die DRV der größten westlichen Militärmacht, zuletzt 1975 in der Schlacht um Saigon, eine noch vernichtendere Niederlage bei.
Die große Hilfe des damals existierenden sozialistischen Lagers, darunter modernste konventionelle Waffen aus der UdSSR, die weltweite Solidarität der Völker und Friedenskräfte, waren entscheidende Grundlage dieses Sieges. Aber die letztlich ausschlaggebende Bedingung, dass diese Faktoren zur Geltung kommen konnten, war der nicht zu brechende Widerstandswille des vietnamesischen Volkes, der in den Traditionen nationalen und antikolonialen Widerstandes wurzelte, die zu mobilisieren eine kommunistische Partei verstand, die Ho Chi Minh gegründet hatte. Diese Revolution bewirkte den weltweiten Beginn des Zerfalls des alten imperialistischen Kolonialsystems. Mit der 1976 auf dem Weg der Wahl einer Nationalversammlung beschlossenen Wiedervereinigung zur Sozialistische Republik Vietnam wurde ein Bekenntnis zum gemeinsamen Weg zum Sozialismus abgelegt. Das geschah auch unter dem Gesichtspunkt, dass angesichts der sozial-ökonomischen aber auch politisch-moralischen Zerrüttung Südvietnams nur das nordvietnamesische Entwicklungsmodell dem Land eine Perspektive bieten konnte. Ein weiterer Aspekt war der unter der großen Mehrheit des Volkes vorhandene Drang zur Wiedervereinigung. Befreiung und Wiedervereinigung waren die entscheidenden Motive für den bewaffneten Kampf gegen die USA und Quelle des Sieges gewesen. Es entstand ein enormer Druck auf die Führungen, dem zu entsprechen. Dennoch ging die SRV Schritt für Schritt vor. Ein wirtschaftlicher Umgestaltungsprozess wurde erst 1978 eingeleitet.
Mit der Wiedervereinigung wurde der Konterrevolution im Süden die staatliche Basis entzogen. Man muss daran erinnern, dass das vor nun mehr fast fünf Jahrzehnten zur entscheidenden Grundlage dafür wurde, dass die KPV die Niederlage des Sozialismus in Europa 1989/90 überstand. Hoffnungen ihrer Gegner, die Partei werde den Pfad der Sozialdemokratie einschlagen, erwiesen sich als Trugschluss. Die Partei Ho Chi Minhs und seiner Nachfolger hat sich nicht gewendet. Sie zählt heute 5,1 Millionen Mitglieder. 60 Prozent davon sind Jugendliche. Diese Zahlen strafen die Behauptungen im Ausland, die Jugend interessiere sich nicht für den Befreiungskrieg oder den Sozialismus, Lügen. Wobei sicher nicht auszuschließen ist, dass bei einigen auch eine Rolle spielen wird, dass sie in der Partei ihre berufliche Karriere am besten gesichert sehen.
Vor diesem Hintergrund nannte Phu Trong es völlig richtig, „auf dem Weg, den Ho Chi Minh und unsere Partei und unser Volk gewählt haben, zu beharren“. In den wenigen Jahrzehnten nach seiner Wiedervereinigung schaffte Vietnam die ersten Schritte zum Aufbau einer Industriegesellschaft. Der Beitrag belegte, dass Vietnam auf seinem sozialistischen Weg als einstiges Agrarland zu einer modernen Industrienation aufgestiegen ist. Mit jährlichen Wachstumsraten von sechs bis acht Prozent seine Wirtschaft zur stärksten im gesamten südostasiatischen Raum wurde. Während in den meisten Ländern der Dritten Welt Hunger und Elend herrschen, haben die Vietnamesen ein bescheidenes aber besseres Leben, die Versorgung mit Grundnahrungsmitteln ist gewährleistet. Der Jugend stehen alle Möglichkeiten der Bildung offen. Allein Ho-Chi-Minh-Stadt, die von zwei auf fast acht Millionen Einwohner anwuchs, verfügt über 50 Universitäten und Hochschulen. Deshalb werde Vietnam, wie Phu Trong bekräftigte, auf dem Weg des Aufbaus einer Gesellschaft fortzuschreiten, „die wirklich für den Menschen da ist, nicht für Ausbeutung und Entmenschlichung um des Profits willen“. In der es um „sozialen Fortschritt und Gleichberechtigung“ geht, in der „Mitgefühl, Solidarität und gegenseitige Unterstützung für fortschrittliche und humanistische Werte stehen“.
In Folge der Niederlage des Sozialismus 1989/90 in Europa verlor Vietnam mit einem Schlag die internationale Basis seiner wirtschaftlichen Zusammenarbeit. Um seine Existenz zu sichern, musste es zur Kooperation mit der kapitalistischen Weltwirtschaft übergehen. Es ging darum, Auslandsinvestitionen zu erschließen, Importe zu sichern und Zugang zu neuen Absatzmärkten zu gewinnen. Andernfalls wäre Vietnam dem Schicksal eines dem Neokolonialismus unterworfenen Entwicklungslandes, seine Menschen der Not und dem Elend, wie in den meisten Ländern der Dritten Welt, ausgeliefert worden.
Völliges Neuland betrat Vietnam nicht. Bereits 1986 hatte der VI. Parteitag der KPV einen Kurs der Erneuerung (Doi Moi) beschlossen, der die stärkere Einbeziehung privatkapitalistischer Betriebe in Industrie, Landwirtschaft und im Finanzsektor festlegte. Das geschah vor dem Hintergrund, dass sich zehn Jahre vorher – ein Jahr nach dem Sieg über die USA-Aggressoren im April 1975 – der sozialistische Norden mit dem kapitalistischen Süden zur Sozialistischen Republik Vietnam vereinigt hatte. Mit „Doi Moi“ begann eine Dezentralisierung des Bankensystems, die Zulassung privater Geldhäuser, eine marktorientierte Finanzpolitik. Nach 1989/90 folgte der Abschluss einer Vielzahl von bilateralen Verträgen mit ausländischen kapitalistischen Unternehmen, der Beitritt zum Internationalen Währungsfond, zur Weltbank und zuletzt 2019 nach über dreijährigen Verhandlungen das EU-Vietnam Free Trade Agreement, (EVFTA) mit der Europäischen Union. Das musste Beziehungen zu den USA, der führenden westlichen Wirtschaftsmacht, einschließen. Auch hier wirkte Ho Chi Minh als Beispiel. In der der Zeit der Gründung der DRV war er bei den Auseinandersetzungen mit Frankreich um die Anerkennung ihrer staatlichen Unabhängigkeit bis an die Grenze der Kompromissbereitschaft gegangen und sogar bereit gewesen, bei der Anerkennung der Souveränität den vietnamesischen Staat in der Französischen Union zu belassen. Auf dem schwierigen und steinigen Weg des Doi Moi musste Vietnam Kompromisse eingehen, zum Beispiel den Schutz ausländischer Investitionen gewähren, dem Umgang mit neoliberalen Essentials wie dem geistigen Eigentum zustimmen, Standards der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) berücksichtigen, ebenso – wie im Abkommen mit der EU – dem Abbau von 99 Prozent der Zölle akzeptieren oder die Umsetzung des Pariser Klimaschutzabkommens. Für Vietnam war entscheidend, dass es mit dem Abkommen mit der EU seine Position als ihr zweitgrößter Handelspartner aus dem Verband der Association of South East Asian Nations (ASEAN) ausbauen konnte.
Während seiner Amtszeit hat Phu Trong, wie Präsident To Lam hervorhob, den Kurs des Doi Moi entscheidend als Weg zum Sozialismus, der den kapitalistischen Weg umgeht, geprägt. Dabei habe er nicht nur gegen alle Sabotagepläne feindlicher Kräfte gekämpft, sondern ebenso entschlossen gegen Erscheinungen des Individualismus innerhalb der Partei, gegen Korruption und ungesunde Praktiken. Im Ergebnis seiner Anti-Korruptionskampagne wurden zahlreiche hochrangige Beamte zu langen Gefängnisstrafen verurteilt, mussten sogar zwei Staatspräsidenten hintereinander zurücktreten. Während westliche Medien ihn wegen seiner konsequenten Wahrung der führenden Rolle der Partei und der Ablehnung eines Mehrparteiensystems als „Hartliner“ diffamieren, stand er nicht zuletzt dank seiner Antikorruptionspolitik im Ruf eines bescheidenen und respektvollen Politikers, der bei den Vietnamesen sehr beliebt war.
In seiner pragmatischen Außenpolitik hat er in der so genannten „Bambusdiplomatie“, die sich auf den im wechselnden Wind sich biegenden, aber nicht brechenden Baum beieht, ein ausgewogenes Verhältnis zu führenden kapitalistischen Staaten, darunter die USA, zu China und Russland, ebenso zu den kapitalistischen Nachbarn in der ASEAN hergestellt, ohne sich auf ihre Seite zu schlagen. Phu Trong war der erste KPV-Chef, der eine Einladung ins Weiße Haus erhielt und diese wahrnahm. Das schlug sich in der Teilnahme westlicher Politiker, darunter des EU-Außenbeauftragten, Josep Borrell, des südkoreanischen Premier Han Duck-soo und des früheren japanischen Premier Yoshihide Suga an seiner Bestattung nieder. US-Präsident Biden nannte Trong einen „Verfechter der engen Beziehungen“ zwischen Amerikanern und Vietnamesen.
In der Suche nach einem Nachfolger steht Hanoi vor schwierigen Entscheidungen. Bis zur Wahl eines neuen Parteichefs durch das Zentralkomitee nimmt das Politbüromitglied, Staatspräsident To Lam, die Führung in der Funktion des ersten Mannes des Staates wahr. Es wird auch für möglich gehalten, dass ein neuer Generalsekretär erst auf dem nächsten Parteitag 2026 gewählt wird, To Lam bis dahin amtiert und unter ihm zunächst das Amt des Generalsekretärs und des Staatschefs wieder in einer Hand vereinigt werden.
Anmerkungen:
Gerhard Feldbauer war mit seiner Frau Irene, die als Fotoreporterin arbeitete, von 1967 bis 1970 als Korrespondent der Nachrichtenagentur „ADN“ in Nordvietnam, Laos und Kambodscha tätig. Sie schrieben das Buch „Sieg in Saigon. Erinnerungen an Vietnam“, Pahl Rugenstein Nachf., Bonn 2005, 2. Auflage 2006. Gerhard Feldbauer u. a. weiter „Die Nationale Befreiungsrevolution Vietnams. Zum Entstehen ihrer wesentlichen Bedingungen von 1925 bis 1945. Pahl Rugenstein Nachf., Bonn 2007, „Vietnamkrieg“, 2. Auflage, PapyRossa, Köln 2019., und „Vor 75 Jahren siegte in Vietnam die Augustrevolution“, Schriftenreihe „Konsequent“ der DKP Berlin, 2/2020.
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