Eine Familie
Im Jahr 2006 hatte Regisseurin Pernille Fischer Christensen noch für ihre Tragikomödie einer Frauenfreundschaft den Silbernen Bären bekommen und im letzten Jahr lief dieser Film „Eine Familie“ mit überwiegend guten Kritiken und lautem Beifallklatschen auf der Berlinale 2010. Inzwischen aber haben sich die Fachleute den Film genauer angeschaut und kommen überwiegend zu dem Ergebnis, das der Weltexpress in seiner damaligen Berichterstattung vorlegte. Es geht um eine verschachtelte Vater-Tochter-Beziehung, die für beide die Liebe fürs Leben ist. Das ging so lange gut, wie die Tochter mit einem Mann verheiratet war, der dem Vater nicht gefährlich werden konnte, zudem Tochter Ditte (Lene Maria Christensen) stets in seiner Nähe lebte.
Diese Symbiose kommt nun durch zweierlei in Gefahr. Die Tochter, die Kunstgeschichte studierte, kann, darf und soll eine Galerie in New York übernehmen, ein Traumjob. Der Vater, Inhaber des familiären Traditionsbetriebes Großbäckerei Rheinwalds, „die schon die dänische Königsfamilie belieferte“, ist krebskrank und muß sterben. Das ist die Ausgangslage, in der die Lieblingstochter nun vom Vater gebeten, gedrängt, ihr aufgezwungen wird, den Familienbetrieb zu übernehmen, damit der Vater in Ruhe sterben kann.
Das wäre eine schöne Geschichte über Liebe, über Zwang, über Loyalitäten, über Familienkonstrukte, aber was herauskommt ist eine Soße, in der die Tochter zur Mater Dolorosa wird, in dem sie auf den väterlichen Wunsch eingeht, ihren Traumjob aufgibt und sich der Familie zur Verfügung stellt. Das könnte eine klare rational wie emotionale Entscheidung sein, ehrenwert und verständlich. Aber gerade die Tochter ist es, die völlig unmotiviert die Vatersicht übernimmt. Das ist für ihren Freund umso bedeutender und bedauerlicher, als Ditte gerade, um New York für beide möglich zu machen, ihre Schwangerschaft zugunsten einer Abtreibung beendete.
Das wird im Film so grauenhaft mit Musik und Tränen überinszeniert, daß spätestens bei diesen Szenen einem unwahr zu Mute wird. So geht es mit den Sterbeszenen des Vaters, die den zweiten Teil des Films ausmachen, weiter. Nehmen wir die richtigen Begriffe, dann müßte man Kitsch sagen, was die Regisseurin uns mit diesem Film zumutet. Sie nimmt dabei wunderschöne Bilder zu Hilfe, Bilder aus einem gutbürgerlichen Ambiente mit opulenten Farben und Großaufnahmen, wo der Vater noch gerade vor der letzten Diagnose seinen Krebs für überwunden hält und seine langjährige Freundin in einem schönen Fest heiratet. Aber auch diese Bilder wirken zutiefst unecht.
Keine Ahnung, was die Regisseurin wirklich übermitteln wollte. Denn am Film bleibt alles, aber auch alles, was an zwischenmenschlichen Problemen da ist, ungeklärt. Das gilt auch für die Tatsache, daß doch vier Vaterkinder da sind, aber nur Ditte eine Rolle spielt. Leider erfährt man auch nichts Substantielles über das Wirken einer Großbäckerei. Gebacken bekommt hier keiner was.
Man Tänker Sitt (Burrowing)
Das nun wiederum, das Backen einer Geschichte, leistet vorzüglich dieser schwedische Film, der schon 2009 entstand und auch mit der Berlinale zu tun hat, weil beide Filmregisseure Henrik Hellström und Fredrik Wenzel ihn als ihre Debüt auf dem Berlinale-Forum 2009 zeigten und einhellig gefeiert wurden. Das liegt am Thema, aber auch in der Art und Weise, wie hier unkonventionell Bilder auf der Leinwand erscheinen, die aus den Augen eines Elfjährigen die Welt anders zeigen, als uns Erwachsenen.
Wobei für jedes Kind seine Welt die ganze Welt ist. Hier aber wird ein Mikrokosmos vorgeführt, der den ganzen Alltagshorror von Vorstädten und abgeschlossenen Einheiten aufweist, die Sebastian (Sebastian Eklund) uns im Detail erzählt. Denn er wandert und wandelt durch diesen Film als auktorialer Erzähler, der mit dem Blick von Außen in das Innere dieser Gesellschaft eindringt und dies lakonisch beschreibt. Als Bezugspunkte sind Rousseau genannt worden, vor allem der die amerikanische Gesellschaft kritisierende Henry David Thoreau, der „Walden“ schrieb. Das Grün kommt auch in diesem Film massiv vor, in starker Abgrenzung zur Besiedelung, wo die Gartenzäune die übersichtliche Welt abtrennen vom dahinter liegenden Wald.
Er, der Sebbe genannte Junge, sieht alles. Er ist unser Zeuge dieser kleinkarierten Welt, er erzählt, wie der Junge heißt, der gerade im Bild erscheint, wo eine bestimmte Familie wohnt, wer und was und wie alles zusammenhängt in seinen unbestechlichen Augen. Filmisch wird das hervorragend gelöst, in dem stark mit Zoom gearbeitet wird und diese Welt dauernd wechselnd im Weitwinkel oder Ausschnitten auf der Leinwand unseren Sehnerven und Hirnen einiges zumutet.
Um was es geht? Da ist nicht eine Hauptgeschichte durcherzählt, sondern viele Stränge führen zu einem Überblick über das Leben dieser Ansammlung von Menschen, die über gemeinsame Orte wie den Großmarkt Lidl und seinen Parkplatz einen Ort des Aufeinandertreffens und gesellschaftlichen Agierens erhalten. Gespenstisch, aber wahr. Wollte man dem Film einen Begriff überstülpen, der ihn erklärt, könnte das nur „Entfremdung“ sein, auch die „Unwirtlichkeit unserer Städte“. Aber man kommt beim Zuschauen gar nicht darauf, Kategorien des filmischen Erzählens zu bilden, weil man viel zu sehr gefangen ist, sich in den Alltagsbeobachtungen des Sebbe zurechtzufinden und sie mit eigenen zu vergleichen. Das ist ein Film, den man mit gutem Recht als wahrhaftig kennzeichnen kann.