Berlin, Deutschland (Weltexpress). Schon seit langem schaffen es in Deutschland beide großen Kirchen eigentlich nur noch mit einem in die Schlagzeilen – mit Skandalen. Vorzugshalber irgendwie sexuellen. Was schon schräg ist, wenn man daran denkt, was deutsche Politiker alles folgenlos anstellen.
Es ist irgendwie eigenartig. Da tritt also die nächste Frau an der Spitze der Evangelischen Kirche Deutschlands zurück, und wieder geht es um einen Missbrauchsvorwurf. Nicht, dass sie selbst missbraucht haben soll, sondern, dass sie vor über zwanzig Jahren einen möglichen Missbrauchsfall nicht gemeldet habe.
Inzwischen sind ja die Begriffe Kirche und Missbrauch geradezu fest miteinander verdrahtet, wenn auch im evangelischen Bereich etwas weniger deutlich als im katholischen. Und ja, unzweifelhaft, da ist etwas, es gab viele Fälle; die Frage ist nur, warum, und die andere Frage ist, welche Folgen haben diese Veröffentlichungen, und lässt sich dahinter womöglich sogar eine Absicht vermuten?
Klar muss man auf der einen Seite sagen, dass das Thema deutlich stärker beachtet wird, als das einmal der Fall war. Die Aufmerksamkeit der Gesellschaft verändert sich. Es gibt allerdings einen schrägen Ton dabei, der den Verdacht einer Absicht verstärkt.
Missbrauch ist eine Handlung, die gewisse Voraussetzungen hat. Das sind Nähe, denn ohne Kontakt ist er schwer möglich, Vertrauen und ein Statusgefälle. Nicht überall, nicht an jedem Ort ist eine Handlung möglich, die man als Missbrauch klassifizieren würde, und es ist ja gerade das angenommene Vertrauen, dass einen Missbrauch etwa innerhalb der Kirche oder innerhalb der Jugendhilfe so schwerwiegend macht. Es ist gerade die Verletzung des Vertrauens.
Sicher spielt im katholischen Bereich auch die eigenartige Selektion eine Rolle, die durch das Zölibat vorgenommen wird. Und dennoch bleibt die gesamte Betrachtung nach mittlerweile zwanzig Jahren (2002 war der große Missbrauchsskandal im katholischen Bistum von Boston) immer noch auf der Ebene des Skandals stehen. Im Falle jedes anderen Vergehens würde man zumindest ansatzweise statistische Relationen finden. Zumindest versuchen, herauszufinden, wie viele in einem solchen Umfeld, gleich, ob evangelisch oder katholisch, involvierte Jugendliche tatsächlich Opfer eines Missbrauchsfalls sind. Jeder zehnte? Jeder hundertste? Es gibt diese Zahlen nach wie vor nicht. Und die gesamte Debatte bewegt sich nach wie vor vor allem auf der Ebene einer Forderung nach Bestrafung, und weit weniger auf der Ebene einer Forderung nach Maßnahmen, die das Problem kontrollieren helfen.
Eine absurde Überlegung? Nein, denn eine Ahndung von Handlungen in der Vergangenheit hilft selbst den Opfern nur begrenzt, ändert aber nichts an der Möglichkeit neuer Vorfälle. Praktisch betrachtet sind Vorwarnmechanismen und Supervisionsstrukturen sinnvoller. Die erste Voraussetzung dafür, tatsächlich eine Veränderung bei diesem Problem selbst herbeizuführen, ist allerdings, wahrzunehmen, dass Vertrauensbeziehungen einer bestimmten Tiefe immer die Gefahr eines Missbrauchs mit sich bringen, so wie es keine Liebesbeziehung ohne Risiko gibt.
Genau das ist der Punkt, der umgangen, ja, geradezu sorgfältig vermieden wird. Und das ist genau der Punkt, der eine Absicht vermuten lässt. Warum? Weil eine gesellschaftliche Debatte zu einem bestimmten Thema sich normalerweise entwickelt, verändert, und von einem ersten Moment der Wahrnehmung hin zu einer praktischen Lösung bewegt. Seit Boston hat sich aber im gesamten Komplex Kirche/Missbrauch nicht viel bewegt; mal kommt da ein Skandal hoch, mal dort, es gibt Beschuldigungen, je nach Sachlage auch einmal Strafprozesse, aber es findet kein Schritt zur Lösung statt. Dabei gibt es schlicht nur zwei Möglichkeiten – entweder, man findet praktische Schritte, die die Wahrscheinlichkeit eines Übergriffs verringern, oder man verzichtet auf die Art des Vertrauensverhältnisses, das den Missbrauch ermöglicht.
Es wäre interessant, zu wissen, wie stark der Einfluss dieser Missbrauchsskandale auf die Entwicklung von Religiösität in Deutschland war. Leider war diese Frage nicht Teil der sehr umfassenden Befragung, die die EKD jüngst veröffentlicht hat. Logisch, weil diese Befragung schließlich im eigenen Interesse durchgeführt wurde, und eher dem Schema folgte, ob das angebotene Produkt noch interessiert, und falls nein, ob und wie man das Produkt ändern solle. Der Frage sozialer Beziehungen widmet sich diese Umfrage nur im Zusammenhang mit ehrenamtlicher Tätigkeit.
Die Befragung stellte fest, dass im Herbst 2022 noch 48 Prozent der Deutschen einer der beiden großen christlichen Kirchen angehörten (und noch einmal neun Prozent irgendwelchen anderen christlichen oder nicht-christlichen Religionen), es aber absehbar ist, dass die Konfessionslosen, die derzeit 43 Prozent der Bevölkerung stellen, schon 2024 die Mehrheit bilden.
Dabei ist selbst bei den noch vorhandenen traditionell an die Kirchen Gebundenen das spezifische Wissen nicht sehr ausgeprägt, obwohl die Vertrauenswerte für die Institution Kirche zumindest für die EKD noch ziemlich gut sind, und bei den eigenen Anhängern die der Bundesregierung übertreffen (die allerdings seit dem Befragungszeitraum viel verloren haben dürfte). Hochschulen und Universitäten waren jedoch die Institution, die am meisten Vertrauen genossen.
Ein Detail, das sofort „die Wissenschaft“ in Erinnerung ruft. Oder den deutschen Ethikrat, dieses Gremium des Grauens. Womit wir bei folgender Feststellung wären: Die Kirchen wurden in ihrer Funktion als Quelle moralischer Orientierung schlicht ersetzt. Das ist keine Vermutung, sondern die konkrete Erfahrung, die man bei den Corona-Maßnahmen machen konnte. Und das Ergebnis war nicht weniger päpstlich im Sinne einer selbsternannten Unfehlbarkeit, aber womöglich unbarmherziger.
Es ist eben nicht so, dass die sich säkularisierende Gesellschaft tatsächlich in einer freien Debatte ihre eigenen moralischen Grundsätze findet. Es gibt Interessen, die dafür sorgen, dass die Leerstelle der moralischen Autorität besetzt wird. Die Neubesetzung ist jedoch, schon allein, weil es noch kein jahrhundertealtes Organisationseigeninteresse gibt, politisch weitaus dienstbarer, als es die alten Autoritäten waren. Der Ethikrat ist wie eine Kirche, von der nur noch die Inquisition übrig geblieben ist.
Andere Funktionen bleiben leer oder werden schwerer erreichbar. Wenn man einmal den Idealfall annimmt, unterscheidet sich ein Gespräch mit dem örtlich zuständigen Seelsorger nicht wesentlich von dem mit einem Therapeuten. Nur, dass das, was im Falle der traditionellen Struktur jederzeit erreichbar war, jetzt einen mehrmonatigen Prozess voraussetzt, eine Bewilligung der Krankenkasse, und die sehr personenabhängige Beziehung im einen wie im anderen Fall scheitern kann.
Übrigens sind therapeutische Beziehungen ebenso von Missbrauch gefährdet wie religiöse. Aber weil es dabei nicht um Mitglieder einer alten, früher zumindest sehr mächtigen Organisation geht, werden diese Fälle als einzelne Vorfälle wahrgenommen und nicht als Verantwortung des gesamten Berufsstands.
Das, was aber tatsächlich passiert, was auf die gesamte Gesellschaft Auswirkungen hat, ist, dass Vertrauensbeziehungen, die außerhalb von Familie und Paarbeziehung eine gewisse Intensität haben, mehr und mehr verschwinden. So, wie dann auch jene kollektiven Strukturen verschwinden, die um derartige Beziehungen herum wachsen. Selbst die „schwächeren“ Gruppenstrukturen (ich setze jetzt einfach voraus, dass die Binnenkontakte eines Sportvereins schwächer sind als die einer Kirchengemeinde) sind dabei, sich aufzulösen.
Es geht teilweise noch weiter. Schon in Kindergärten werden die Gruppenstrukturen aufgelöst. Damit entfällt ein wichtiger Teil des sozialen Lernens, nämlich miteinander auch bei Konflikten umgehen zu können. Ich erinnere mich noch daran, wie sehr die Lehrer in den Grundschulen meiner Töchter über Kinder stöhnten, die nicht im Kindergarten waren und daher die nicht ganz unbedeutenden Schritte, sich nach einem Streit wieder zu versöhnen, nie erlernt hatten.
Die Geschichte der christlichen Kirchen ist voller Auseinandersetzungen um Fragen, die heute die wenigsten überhaupt nachvollziehen können. Die Umfrage der EKD hat aus gutem Grund nicht nachgefragt, ob ihre Gläubigen Luthers Rechtfertigungslehre erklären können, auch wenn das der Punkt war, von dem dann endlose Religionskriege ausgingen. Aber so irrwitzig viele der Auseinandersetzungen waren, es war ihnen eine Ernsthaftigkeit zu eigen, die man Truppen wie dem Ethikrat nicht zu Gute halten kann. Die präzise Sprache, die lange die deutsche Philosophie kennzeichnete, war ein Produkt der weltweit einzigartigen unmittelbaren Konkurrenz zweier Staatskirchen, verteilt auf 34 Königreiche und Fürstentümer, jedes mit eigenen Lehrstühlen und Bischöfen. Es war ein Ringen um die Wahrheit, auch bei Hegel, Feuerbach und Marx. Die Art und Weise, wie sich die deutsche Gesellschaft säkularisiert, und welche Surrogate die moralische Instanz bieten sollen, ist inzwischen weit davon entfernt.
Es gibt aber Begriffe, die sich ohne dieses ernsthafte Ringen nicht erschließen. Vergebung, beispielsweise. Es gibt eine säkulare Variante, die sich in der Sicht verkörpert, dass jeder Mensch lern- und veränderungsfähig ist, doch diese säkulare Variante hat wiederum soziale Erfahrungen zur Voraussetzung, die nicht als Einzelner gemacht werden. Weder bei Corona noch aktuell in der Reaktion auf die Bombardierung von Gaza trifft die zügellose Inhumanität, die politisch vorgelebt wird, auf einen moralischen Widerstand der Gesellschaft, der stark genug ist, das Handeln zu verändern.
Das Nachdenken über die moralischen Grundlagen des eigenen Handelns ist etwas, was man nur im Gespräch erlernen kann, und es braucht Vertrauen, damit dieses Gespräch stattfinden kann. Jede spätere Erwägung, jede Entscheidung, die man alleine trifft, ist eine innere Reinszenierung eines solchen Gesprächs. Man erlernt es nicht anhand von Fragen, die einen nicht berühren. Es ist diese Art des Kontakts, die persönliche Reife ermöglicht. In der Regel braucht es dafür ein starkes, bindendes gemeinsames Interesse. Es ist genau die beiderseitige Offenheit, die die Gefahr des Missbrauchs erwachsen lässt. Aber ohne sie ist eine humanistische Haltung, gleich, ob man sie jetzt religiös oder säkular begründet, unerreichbar.
Das, was an der Institution Kirche in beiden Geschmacksrichtungen stört, ist nicht ihre „offizielle“ Seite, die Großkonzerne, die mit ihren Sozialverbänden jeweils eine halbe Million beschäftigen und jederzeit gern ihre Zustimmung zur bestehenden Gesellschaft bekunden. Was daran stört, ist, dass diese Zustimmung nie vollständig war, dass es immer auch Gegenströmungen gab, dass sich letztlich eben die verschiedensten Teile der Gesellschaft irgendwie wiederspiegelten. Man könnte fast behaupten, die Kirche in der DDR war durch zu große Nachsicht der dortigen Regierung derart erfolgreich im Dienste des Westens, dass dieser selbst danach beschlossen hat, auf keinen Fall das Risiko einzugehen, dass es ihm ähnlich ergehen könnte, und diesem Tier die Zähne zu ziehen. Die „alte“ EKD jedenfalls, die mit den lila Halstüchern, hätte nicht derart widerspruchsfrei dieser Kriegsbegeisterung zugestimmt.
Wenn man Religionen auf einen zentralen Kernteil eindampfen wollte, auf das, was sie zur Gesellschaft beitragen können, dann ist es eine Botschaft der Gleichheit als Bestandteil eines größeren Ganzen. Schon dieser Gedanke der Gleichheit ist zuviel, kollidiert bereits mit dem extremistischen Ego-Kult, der nötig ist, um den extremen Abstand zwischen Reich und Arm zu verhüllen. Denn die wahre, abgrundtiefe Obszönität, die die kleine Truppe von Milliardären darstellt, kann nur verdeckt werden, indem man sie zu einer von vielen Varianten eines übergeschnappten Egoismus macht, und die eigentlichen Fragen des menschlichen Seins, wie die, was von der eigenen Existenz übrig bleibt, völlig negiert.
Wie weit diese Fragen inzwischen in die Ferne gerückt sind, zeigte sich im Corona-Wahn. Denn sowohl die nicht nur individuelle, sondern gemeinsame Fürsorge für die Kinder als auch der Respekt vor den Alten ergibt sich genau von diesem Punkt aus, von der Wahrnehmung der eigenen Endlichkeit, und das ganze Maßnahmenpaket, mit seiner völligen Entmündigung der Bewohner von Pflegeheimen wie der betonten Kinderquälerei wirkte wie eine kulturelle Inszenierung einer mittleren Generation, die sich ihrer gesellschaftlichen Aufgabe verweigert und im Interesse ihres eigenen Wohlbefindens ihre Vergangenheit wie ihre Zukunft negiert. Warum sollte man sich wundern, wenn eine Gesellschaft, die ihre eigenen Kinder nicht nur wie Feinde behandelt, sondern auch zu Feinden erklärt hat, außerstande ist, die inhumanen Folgen oberflächlicher politischer Phrasen wie von „europäischen Werten“ wahrzunehmen?
Der Rücktritt von Margot Käßmann wirkt im Rückblick wie ein politischer Putsch, der den Widerstand gegen die neoliberale Politik von dieser Seite eingeebnet hat. Gleiches gilt für den katholischen Teil, der über die Mißbrauchsskandale noch weitaus mehr abbekommen hat. Wenn jetzt die nächste Person in der EKD entfernt wird, muss man deshalb fragen, ob das wirklich etwas mit einem Vorfall zu tun hat, der über zwanzig Jahre zurückliegt, oder ob andere Absichten dahinter stehen. Nachdem die Ergebnisse der Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung der EKD ergeben haben, dass sie noch mehr Vertrauen genießt als die katholische Konkurrenz, wird man das ganz einfach überprüfen können. Dann wird nämlich bald der nächste Skandal folgen. Ich würde einen Finanzskandal vorschlagen, zur Abwechslung.
Anmerkung:
Vorstehender Beitrag von Dagmar Henn wurde am 21.11.2023 in „RT DE“ erstveröffentlicht.