Jerusalem, Israel; Wien, Österreich (Weltexpress). Israel bezeichnete sich stets – und das zu Recht – als einzige Demokratie, als einzigen Rechtsstaat im Nahen Osten. Dieser Ausnahmestatus erscheint nun, angesichts von der durch Premierminister Benjamin Netanjahu und seine Getreuen angeordneten „Justizreform“, akut gefährdet. Täglich demonstrieren auf den Straßen Israels Hunderttausende aufgebrachte Bürger liberal-demokratischer Gesinnung gegen eine Entwicklung, die aus ihrer Sicht in Richtung Faschismus driftet. Auch hunderte von Veteranen des Inland-Geheimdienstes Shin Bet gingen auf die Straße. Dass sich ihnen Angehörige der seit Entebbe legendären Commando-Einheit Sayeret Matkal anschlossen, entbehrt nicht der Ironie: Benjamin Netanyahus Bruder „Yoni“, der heroische Kommandant dieser Truppe, kam bei jener Geiselbefreiungsaktion ums Leben – und dessen Glanz hat zweifellos auf seinen Bruder abgefärbt.
Dass das Elite-Geschwader Nummer 69 der israelischen Luftwaffe, das Rückgrat der israelischen Verteidigung, welches die High-Tech-Kampfflugzeuge F-15 Thunderbird fliegt aus Protest gegen die Gefährdung der israelischen Demokratie mit Verweigerung gedroht hatte, stellt eine nie dagewesene Herausforderung gegenüber Netanjahus patriotischem Anspruch dar, Existenz und Sicherheit Israels mit allen Mitteln zu verteidigen.
Die innenpolitische Szene Israels ist seit der Gründung des jüdischen Staates im Jahr 1948 nie zur Ruhe gekommen. Die unausgesetzte äußere Bedrohung durch arabische Staaten, die ungezählten Terrorakte, die permanenten tektonischen Verschiebungen der ethnischen und politischen Zusammensetzung Israels dieses Staates, der Influx zahlreicher Juden aus arabischen Staaten und aus Russland mit geringem Verständnis für Demokratie und Minderheitenschutz, der wachsende Einfluss der Orthodoxie ließen diesen Staat in seinem 75jährigen Bestehen nie zur Ruhe kommen. Als ich Israel 1968, ein Jahr nach dem Sechstagekrieg, erstmals bereiste, herrschte blinde Euphorie über jenen spektakulären Sieg. Was mit den frisch besetzten Gebieten und deren palästinensischen Bewohnern anzufangen sei, wurde verdrängt und das Problem sträflich unterschätzt. Das Provisorium der Besetzung wurde zur permanenten Beherrschung. Die jüdischen Siedlungen, Nährboden des religiös-nationalistischen Fanatismus, wuchsen überall aus dem Boden. Den Palästinensern wiederum fehlte eine konstruktive, friedensbereite Führung. Stattdessen kamen Intifada und mörderische Sprengstoffgürtel. Meterhohe Schutzmauern zerschneiden inzwischen die biblische Landschaft, die Armee greift immer härter gegen palästinensische Extremisten durch und lässt amoklaufende Siedler gewähren. Die Situation in Israel wird zunehmend besorgniserregend – die Verwirklichung des alten Friedenstraumes ist in weite Ferne gerückt. Doch gerade jetzt sollte die Welt Israel die Unterstützung nicht verweigern.
Anmerkung:
Vorstehender Beitrag von Dr. Charles E. Ritterband wurde am 9.3.2023 in „Voralberger Nachrichten“ erstveröffentlicht.