Brasilien – Quo vadis mit Lula da Silva?

„Ordnung und Fortschritt“ steht mit grüner Aufschrift auf dem weißen Spruchband über dem blauen Himmelsglobus in der gelben Raute auf grünem Grund. © Foto/BU: Dr. Peer Schmidt-Walther, BU: Stefan Pribnow, Aufnahme: Brasilien April 2018

Berlin, Deutschland (Weltexpress). Bei seinem dritten Amtsantritt war Präsident Lula da Silva stark umworben. Vor allem Washington und die westlichen Vasallen hoffen, mit Lula die BRICS-Gemeinschaft von innen knacken zu können. Aber einem Politiker, der im Interesse der Bevölkerung arbeitet, hat die US-geführte Raubordnung nichts zu bieten außer Chaos und Armut.

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier war höchstpersönlich zur Amtseinführung von Brasiliens neuem Präsidenten Luis Inácio Lula da Silva in die Landeshauptstadt Brasília gereist, um dort – im Wortlaut des mitgereisten ARDTagesschau-Hofberichterstatters Moritz Rödle – bei Lula „eine Charmeoffensive“ zu starten. Denn „nach schwierigen Jahren während der vorangegangenen Bolsonaro-Präsidentschaft“ beabsichtige die Bundesregierung „einen Neustart der bilateralen Beziehungen zwischen Deutschland und der größten Volkswirtschaft Südamerikas“, so die Tagesschau.

In der Tat zeigten die mitgelieferten TV-Bilder, wie Steinmeier Lula seinen „Charme“ aufdrängte, ihn umarmte, drückte und herzte wie einen alten Freund. Ob die Beziehung zwischen dem neoliberalen Pseudolinken der deutschen SPD und dem kämpferischen Antiimperialisten der südamerikanischen Linken mit Gefängniserfahrung wirklich so eng und emotional ist, wie uns Steinmeier glauben machen wollte, darf bezweifelt werden.

Aber womöglich wollte Steinmeier mit seinem überfreundlichen deutschen Charme vor der Weltöffentlichkeit nur den Eindruck erwecken, er könnte dank seiner persönlichen Beziehungen zu Lula einen Richtungswechsel in Brasilien bewirken: weg von der BRICS-Gemeinschaft (Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika), zurück in den Schoß der westlichen, US-geführten Ausbeutergesellschaft und Kriegsabenteurer.

Tatsächlich ist Lula zu Beginn seiner dritten Amtsperiode ein allseits umworbener Mann. Auch das Netzwerk der liberalen Falken in Washington, das im Weißen Haus und in anderen Schlüsselpositionen der US-Regierung dominiert, hat seit Lulas Wahlsieg alle Register gezogen, um ihn auf die Seite der US-diktierten, regelbasierten Wertegemeinschaft zu ziehen. Es sind dieselben Leute, die Lula bei seiner Inhaftierung keine Träne nachgeweint hatten oder irgendetwas getan hätten, das ihm geholfen hätte.

Lulas Wahlsieg hatte noch nicht endgültig festgestanden, da hatte Joe Biden, der von diesem Netzwerk wie in einem Puppentheater dirigiert wird, bereits telefonisch gratuliert. Wenig später war dann Bidens Nationaler Sicherheitsberater Jake Sullivan in Brasilien eingetroffen, um für einen Lula-Besuch in Washington zu werben.

Auch der chinesische Präsident Xi Jinping schickte Lula einen herzlichen Brief, in dem er die „globale strategische Partnerschaft“ zwischen Brasilien und China betonte. Der russische Präsident Wladimir Putin hatte Lula ebenfalls angerufen und den Erfolg des russisch-brasilianischen Zusammenarbeit im Rahmen des „strategischen Ansatzes“ der BRICS-Gemeinschaft betont.

Im Vergleich zu den politischen Schwergewichten in Washington, Peking und Moskau hatte Steinmeier in Brasília nicht viel zu bieten. Um nicht mit ganz leeren Händen zu kommen, zauberte er noch eine milde Gabe für den „Schutz des Regenwaldes“ aus dem diplomatischen Zylinder der zu diesem Zweck mitgereisten Umweltministerin, der Grünen Steffi Lemke. 25 Millionen Euro aus ihrem Haushalt hatte sie für den Regenwald nach Brasilien mitgebracht. Allerdings liegen Brasiliens wirtschaftliche und gesellschaftliche Prioritäten, die dringendsten Bedürfnisse und Nöte der Bevölkerung ganz woanders, was jedoch ganz offensichtlich außerhalb der Wahrnehmungsfähigkeit neoliberaler SPD-„Linker“ oder grün versiffter Gehirne liegt.

Aufgrund der westlichen Sanktionen gegen Russland konnte Brasilien z. B. aus Russland keine Düngemittel mehr für seine große und boomende Agrarwirtschaft importieren. Laut der US-Nachrichtenagentur Bloomberg hat sich Brasilien in den letzten zwei Jahrzehnten zu einem landwirtschaftlichen Kraftwerk entwickelt. Es hat sich zu einem führenden Exporteur von Kaffee, Zucker, Sojabohnen, Maniok, Reis, Mais, Baumwolle, essbaren Bohnen und Weizen entwickelt.

Allerdings ist keine andere große Agrarnation der Welt so sehr auf ausländischen Dünger angewiesen wie Brasilien, das mehr als 85 Prozent seines Düngemittelbedarfs importiert. Russland war bis zum Krieg in der Ukraine der Hauptlieferant gewesen und hatte zusammen mit Weißrussland 28 Prozent des brasilianischen Verbrauchs geliefert. Folglich stellt der Bruch der Lieferkette für Düngemittel für den brasilianischen Agrarsektor das größte Problem dar, zumal es für den Absatz auch immer mehr Nachfrager aus Asien gibt.

Die Düngemittelkosten waren bereits vor Russlands militärischer Spezialoperation in der Ukraine hoch gewesen. Durch den Wegfall der russischen Exporte explodierten dann auch in Brasilien die Preise für Düngemittel. Das löste eine Kettenreaktion aus: Die Produzenten setzten weniger Dünger ein, weshalb die Ernteerträge geringer ausfielen, wodurch bei gleicher Nachfrage die Preise für Agrarprodukte und Lebensmittel explodierten.

Dieser Effekt konnte und kann immer noch beobachtet werden, nicht nur in Brasilien, sondern weltweit. Das gefährdet die Ernährungssicherheit in vielen Ländern, die wiederum – trotz gegenteiliger Propaganda des Westens – nicht Russland, sondern die westlichen Sanktionen gegen Russland für ihre Probleme verantwortlich machen.

Dennoch scheint es für Brasilien einen Lichtblick zu geben. Die Abteilung „Strategische Recherche“ des US-Großbanken-Konzerns J.P. Morgan war schon vor neun Monaten zu dem Schluss gekommen, dass die brasilianische Landwirtschaft wegen der BRICS-Mitgliedschaft des Landes mittelfristig besser dasteht als die meisten anderen Länder der Welt.

In der Abteilung „Strategische Recherche“ eines weltweit führenden Geldhauses wie J.P. Morgan arbeiten übrigens die Leute, die ohne Rücksicht auf politische Korrektheit oder Propaganda-Narrative von Parteien und Regierungen politisch wertfrei recherchieren, um für Großanleger profitable Trends und lukrative Entwicklungen rund um die Welt zu identifizieren.

In dem Bericht der J.P.-Morgan-Strategen von Ende März 2022 heißt es daher folgerichtig:

„Während das Exportverbot für russische Düngemittel Risiken für die globale Versorgung und die Ernteerträge darstellt, gelten China, Indien, Brasilien und Pakistan (in Moskau) als befreundete Länder, und die werden wahrscheinlich wieder Zugang zu russischen Düngemittelexporten haben, um den Bedarf an Nutzpflanzen in den kommenden Saisons zu decken.“

Mit dieser Einschätzung dürften die J.P.-Morgan-Banker Recht behalten. Die BRICS- und andere von Moskau als befreundet eingestuften Länder müssen lediglich den Mut aufbringen, sich über die Westsanktionen hinwegzusetzen, ihre Schiffe in die russischen Häfen zu schicken, zu beladen und diese selbst zu versichern sowie zugleich Zahlungsmethoden unter Umgehung von Westwährungen zu entwickeln. Dann bekommen sie so wieder so viel guten und preisgünstigen Dünger, wie sie wollen.

Vor diesem Hintergrund überrascht es auch nicht, dass sich Lula in seiner feierlichen Antrittsrede am letzten Sonntag in der Hauptstadt Brasília nicht nur für die Stärkung der Zusammenarbeit der BRICS-Gemeinschaft ausgesprochen hat, sondern auch die notwendige enge Kooperation mit anderen antiimperialistischen Organisationen in Lateinamerika betont hat. Unter anderem sagte Lula:

„Unsere wichtigste Rolle wird in der Wiederaufnahme der südamerikanischen Integration auf der Grundlage des Mercosur (des gemeinsamen Marktes Südamerikas) und der Wiederbelebung der Union Südamerikanischer Nationen und anderer souveräner Institutionen in unserer Region ihren Niederschlag finden. Wir werden in der Lage sein, einen aktiven und produktiven Dialog mit den Vereinigten Staaten, der EU, China, Russland und anderen globalen Akteuren aufzubauen. Wir werden die BRICS und die Zusammenarbeit mit afrikanischen Ländern stärken, um die Isolation zu beenden, in der sich unser Land in den letzten Jahren befunden hat.“ Mit einer Warnung an Washington unterstrich er: „Brasilien muss Herr seines eigenen Schicksals werden.“

Auch in Richtung der westlichen Klimasekten machte Lula klar, dass er sich jede ausländische Einmischung oder gar Diktate über den Umgang mit dem Regenwalt verbietet. Er erinnerte daran, dass sich die meisten äquatorialen Regenwälder des Amazonasbeckens auf dem Territorium seines Landes befinden. Dabei unterstrich er, dass seine Regierung beabsichtige, Fragen der Umweltagenda nur auf der Grundlage a) der nationalen Interessen und b) auf Augenhöhe mit den entwickelten westlichen Ländern zu diskutieren bereit ist.

Zu Lulas Amtseinführung waren 65 ausländische Delegationen gekommen, darunter 17 auf der Ebene des Staatsoberhauptes, wozu auch Steinmeier gehörte. Die russische Delegation wurde von der Sprecherin des Föderationsrates (dem Oberhaus des Parlaments) Walentina Matwijenko geleitet. Die chinesische Delegation wurde von Vizepräsident Wang Qishan angeführt.

In einem persönlichen Treffen mit Präsident Lula überbrachte Matwijenko die Botschaft, dass Russland bereit ist, die für Brasilien erforderlichen Mengen an Mineraldüngern weiter zu liefern. Wörtlich teilte sie der Presse nach dem Treffen mit:

„Russland war und ist einer der Hauptlieferanten von Mineraldüngern für Brasilien, die hier eine sehr wichtige Rolle bei der Entwicklung des agroindustriellen Sektors spielen. Wir haben die Bereitschaft bestätigt, die erforderlichen Mengen weiterhin zu liefern, wobei wir die Logistik und das Zahlungssystem überdenken müssen, was die bestehenden Hindernisse für die Zusammenarbeit in diesem Bereich beseitigen würde.“

Derweil deuten sich aufgrund der wachsenden Kooperation innerhalb der BRICS-Gemeinschaft weiter Veränderungen von Brasiliens Außenhandelsstruktur an. Letzte Woche, am 31. Dezember, berichtete Bloomberg von der ersten Maislieferung Brasiliens nach China in der Geschichte der Handelsbeziehungen zwischen den beiden Ländern.

Brasilien ist nach den USA der zweitgrößte Maisexporteur der Welt. Zwar gefährdet die erste Maislieferung von 68.000 Tonnen brasilianischem Mais per Massengutfrachter nach China noch nicht die US-Dominanz auf diesem Sektor, aber laut Bloomberg ist das doch ein deutliches Zeichen, dass China seine bisherige Abhängigkeit vom US-Farmgürtel im Mittleren Westen Nordamerikas verringern will und sich dementsprechend mittelfristig die Handelsströme für Mais und andere Agrarprodukte von den USA weg verlagern werden.

In den meisten anderen Außenhandelssparten hat China die USA bereits vom Spitzenplatz der Handelspartner Brasiliens verdrängt. China ist seit 2009 Brasiliens wichtigster Handelspartner, die USA liegen abgeschlagen auf dem zweiten Platz. Der bilaterale Handel im Jahr 2021 erreichte 135 Milliarden US-Dollar. Das Problem für Brasilien ist die mangelnde Diversifizierung und der Fokus auf eine geringe Wertschöpfung: Eisenerz, Sojabohnen, rohes Rohöl und tierisches Eiweiß machten 2021 87,4 Prozent der brasilianischen Exporte aus. Bei den Importen aus China handelt es sich dagegen hauptsächlich um Tech-Produkte mit hoher oder höherer Wertschöpfung.

Ohne Zweifel findet China die brasilianischen Bodenschätze interessant, um seinen nächsten Entwicklungsschub der „friedlichen Modernisierung“ voranzutreiben, der auf dem letzten Parteitag in Peking festgelegt wurde. Aber wenn Präsident Lula mehr und auch besser bezahlte Arbeitsplätze schaffen und eine ausgeglichenere Handelsbilanz mit China herbeiführen will, dann muss er erst die Grundlagen schaffen, nämlich die moderne Infrastruktur für eine umfassende Revitalisierung und Erweiterung der brasilianischen Industrie. China ist bereit, Brasilien dabei zu helfen.

Das Reich der Mitte investiert bereits massiv in den brasilianischen Stromsektor – vor allem, weil staatliche brasilianische Unternehmen von chinesischen Unternehmen gekauft werden. Aus Lulas Sicht ist das jedoch nicht zulässig, denn es sei ein klassischer Fall der Privatisierung strategischer öffentlicher Vermögenswerte durch ausländische Unternehmen.

Ein anderes Szenario spielt sich im benachbarten Argentinien ab. Buenos Aires wurde im Februar offizieller Partner von Chinas „Neuer Seidenstraße“ oder der „Belt and Road Initiative“, wie das Unterfangen offiziell heißt. Damit ist China mit mindestens 23 Milliarden Dollar an neuen, bereits in Angriff genommenen Projekten beteiligt. Unter anderem wird auch das argentinische Eisenbahnsystem für etwa 4,6 Milliarden US-Dollar modernisiert, und zwar von chinesischen Unternehmen. Die Chinesen investieren auch in das größte Solarkraftwerk Lateinamerikas, in ein Wasserkraftwerk in Patagonien und ein Kernkraftwerk – inklusive Transfer chinesischer Technologien nach Argentinien.

In China, egal ob bei Präsident Xi oder in der chinesischen öffentlichen Meinung, ist Lula überall hoch angesehen. Es dürfte ihm nicht schwerfallen, ein besseres Partnerschaftsmodell mit China auszuhandeln als jenes, das sein neoliberaler Vorgänger Jair Bolsonaro bekommen hatte, schrieb Ende 2022 der brasilianische Geostratege Pepe Escobar. Auch ein iranisches Partnerschaftsmodell mit China auf der Basis von Öl und Gas im Austausch für den Aufbau kritischer Infrastruktur müsste möglich sein.

Wie auch immer, eines ist klar: Brasiliens Chancen, die ökonomische Zukunft zu meistern und die Bedürfnisse seiner Bevölkerung zu decken, liegen in der festen Mitgliedschaft in der zunehmend starken BRICS-Gemeinschaft und nicht in der Rolle einen Juniorpartners der NATO, unter Oberaufsicht der USA. Eine solche Partnerschaft hatte Washington Anfang August 2021 Präsident Bolsonaro vergeblich aufzuzwingen versucht.

Wichtig für Brasilien ist auch, dass die Kooperation in der BRICS-Gemeinschaft weit über die reinen gegenseitigen Handelsinteressen hinausgeht, was sich vor allem in letzter Zeit durch eine zunehmende Übereinstimmung bei der gemeinsamen Einschätzung internationaler Krisen bemerkbar gemacht hat. Als Moskau Anfang Juli 2022 beim G20-Gipfel auf der indonesischen Insel Bali US-Außenminister Antony Blinken für die ausbleibenden Getreideexporte aus der Ukraine und damit auch für eine drohende globale Hungerkatastrophe verantwortlich machte und eine Verurteilung des Kreml forderte, gab es ein deutliches Nein von China, Indien und Brasilien.

Anmerkung:

Vorstehender Beitrag von Rainer Rupp wurde am 8.1.2023 in „RT DE“ erstveröffentlicht.

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