Dabei bringt dieses Buch ’NoBody’s Perfect’, das einem Film folgt, die ganze schrecklich Geschichte erst in Form, in eine menschliche Form, die einen staunen lässt und bei der man Respekt gewinnt, Heidenrespekt vor denen, die sich liebevoll ironisch „Contis“ nennen oder auch „Conterganos“. Diese schreckliche Geschichte heißt ’Contergan’. So hieß das Medikament, ein Schlafmittel, das die Firma Grünenthal ohne ausreichende Überprüfung seit 1959 auf den Markt warf und das als ’ohne Nebenwirkungen wie süchtigmachend’ angepriesen, vor allem für Schwangere unschädlich schien. Heute weiß man, dass es oft nur eine einzige Tablette war, die bei den Ungeborenen für Missbildungen der unterschiedlichsten Art sorgte.
Seit jüngst ein Fernsehfilm diesen Skandal – der übrigens auch Thema der Ausstellung in Leipzig „Skandale in Deutschland ist – medienwirksam aufbereitete, hat sich die Diskussion in zwei Richtungen entwickelt. Zum einen, wie Menschen, die durch Gewinnsucht einzelner – Grünenthal hat erst 1961 das Medikament vom Markt genommen, rund 10 000 Ge-und Beschädigte gibt es, über die Todesfälle redet niemand, – für ihr ganzes Leben mit Missbildungen leben müssen, wie sie es können, wie sie es tun; zum anderen die politische Diskussion, wie so etwas in der Bundesrepublik Deutschland überhaupt möglich war und über die Gerichtsverfahren, die damals mit dem unglaublichen Urteil fehlender Verantwortung und mangelndem öffentlichem Interesse und einer peinlich niedrigen Entschädigungssumme für die Betroffenen endeten, aber durch die neue Thematisierung auch die Firma Grünenthal und vor allem die Eigentümerfamilie Wirtz endlich in unrühmliches Licht rücken.
Das zeigt auch der jetzt angelaufene Film von Nico von Glasow, in dem dieser über Monate versucht, Kontakt mit der Firma aufzunehmen, die ihm selbst die offizielle Entgegennahme seiner Ablichtung auf einem Plakat, auch Teil des Buches und des Kalenders, verweigert. Das Besondere nämlich ist, dass der Regisseur selbst ein ’Conti’ ist. Wenn man nun genauso offen sagen kann, das merkt man dem Film nicht an, soll darauf hingewiesen sein, daß einerseits von Glasow seit den ’Hochzeitsgästen’ von 1990 ein renommierter Regisseur ist, andererseits in dem Film, dem Buch und dem Kalender keine Betroffenheitsoper abgeht, sondern die Lebenswirklichkeiten dieser elf Protagonisten uns als Zuschauer so fesseln, ihr Umgang mit ihrem Körper und das Zeigen ihrer seelischen Befindlichkeiten einem – ohne selbst ein schlechtes Gewissen zu haben, dass man zumindest körperlich intakt ist – so an- und aufrühren, dass man sich gegen Ende des Films nur eines wünscht, bei deren abschließendem Fest dabei gewesen zu sein, um an dem Witz, dem Lebensmut, ja Lebenslust, der Intelligenz, den Verrücktheiten, den skurrilen und schrägen Verhaltensweisen teil zuhaben. Tatsächlich, wir wünschten uns nicht nur, diese Menschen auch persönlich kennenzulernen, den einen mehr, vor allem die Engländer (!), die anderen weniger, sondern sie in unserem Lebensumfeld haben zu dürfen.
Was wir haben dürfen, sind neben dem Film, der nur als Eindruck bleibt, denn er ist halt ein Medium der Vergänglichkeit, ist das Buch und der Kalender. Wir haben uns auf das Buch gestürzt und gestützt, weil es einfach unser Medium der Worte und Bilder ist. Und darüber einen eigenen Artikel verfasst.
P.S. Was kann ein Normalbürger gegenüber dieser Firma und der Eigentümerfamilie Wirtz tun, war meine erste Frage an mich selber nach der Filmvorführung. Ihre Produkte nicht kaufen, ist die einzige Form der ’Bestrafung’, die mir möglich scheint. Also herausfinden, welche Produkte ihr gehören und in welchen Firmen diese Familie Wirtz ihre Finger hat und verdient und diese Artikel nicht mehr kaufen.
Das gilt ab sofort für 4711, Sir Irish Moos, Tabac Original, Gin Tonic Fragrances, Nonchalance, Otto Kern, Betty Barclay, S. Oliver, 4711 ICE, Pussy Deluxe Tosca, TNT, Carlo Collucci. Was Sie stattdessen kaufen sollten, ist das Buch!
Start: 11 September 2008, jetzt am 10. August 2010 um 22.45 Uhr in der ARD
Regie: Nico von Glasow
Mit: Stefan Fricke, Sofia Plich, Bianca Vogel, Sigrid Kwella, Kim Morton, Fred Dove, Mat Fraser, Andreas Meyer, Doris Pakendorf, Petra Uttenweiler, Theo Zavelberg, Nico von Glasow, Mandel von Glasow
Buch: Nico von Glasow Ania Dabrowska, NoBody’s Perfect, Elisabeth Sandmann Verlag, 2008
Kalender: DIN A3 mit 12 Hochglanzfotos; Bestellung ab sofort unter info@palladiofilm.de