„Kampf der Kulturen?“ Jedenfalls nicht am Tresen der stets gut besuchten Schiffsbar, an der sich Barkeeper Claudio eifrig bemüht, der regen Nachfrage an Pisco Sour umgehend nachzukommen. Jenem milchig im Glase schimmernden Zaubertrank, dem es auf wundersame Weise stets neu gelingt, das Stimmungsbarometer selbst bei frostigen Außentemperaturen nach oben zu treiben. Kalt serviert und heiß geliebt, gleichsam ein Lebenselixier in unberechenbarer rauer Umwelt. Und dabei doch nicht weniger als der Ausgangspunkt für einen Konflikt nationalen Ausmaßes, der die Länder Chile und Peru bis in die Gegenwart hinein spaltet.
Vordergründig gesehen handelt es sich bei diesem Streit um ein kulinarisches Problem. Um die Frage, ob der Traubenschnaps als Grundbestandteil des Pisco Sour seine Geschmacksnuancen mit hinzugefügtem Limettensaft oder aber mit einem Schuss Zitronensaft besser entfaltet. Doch bei Licht betrachtet entpuppt sich der Streitpunkt nicht so sehr als eine Frage des Geschmacks, sondern als eine Frage der Ehre. Geht es doch für beide Nationen um den Stolz, alleiniger Erfinder dieses grenzübergreifenden Nationalgetränks zu sein. Und Claudio, ein aufrechter Chilene, lässt in seiner patriotischen Grundhaltung natürlich keinen Zweifel daran aufkommen, auf wessen Seite er steht.
Gefrierfleisch und Mate-Tee
Ja, hier im südlichen Patagonien lässt sich niemand so leicht den Schneid abkaufen. Stets der Macht der Elemente ausgeliefert, gehört schon ein wenig Knorrigkeit verbunden mit einer Portion Bodenständigkeit dazu, um vor den Herausforderungen des rauen Alltagslebens zu bestehen. Menschen wie Sergio, von seinen Freunden liebevoll „Chechin“ genannt. Einst als Gaucho auf dem weitläufigen Gelände einer Estancia den Unbilden des Wetters ausgesetzt, lässt ihn auch heute die Vergangenheit nicht los. Diesmal in der Nähe der Hafenstadt Puerto Natales als kenntnisreicher Führer durch den einstmals größten Schlachthof der Welt.
„Bis zu fünftausend Schafe täglich“, weiß er während des Rundgangs durch die riesigen Hallen zu berichten. „Bis sie in tief gefrorenem Zustand von englischen Kühlschiffen abgeholt wurden“, fügt er hinzu, ohne sich dabei vom Genuss seines mitgeführten Mate-Tees abbringen zu lassen. Doch vorbei ist vorbei, und so konnten, wie er anerkennend hinzufügt, große Teile dieses einstigen Prunkstücks der Industriellen Revolution vor wenigen Jahren zu einem nicht minder imponierenden Prachtstück moderner Hotellerie umgebaut werden. Und in der Tat: Stilistisch wirkt „The Singular Patagonia“ dabei harmonisch abgestimmt auf seine urwüchsigen architektonischen Vorgaben. Und ist zudem nur einen Katzensprung entfernt von der absoluten Starkulisse der Natur, dem Nationalpark „Torres del Paine“.
Urgewalt der Elemente
Eine Landschaft, in der die Elemente mit Urgewalt aufeinander treffen, wie Parkbegleiterin Sophia erklärt. Entstanden durch Feuer aus dem Erdinneren, das sich mit Druck den Weg aus seiner Magmakammer an die Oberfläche bahnte. Und dabei vulkanisches Material mit sich führte, das in erstarrtem Zustand wirkt wie großflächig über die Erde verteiltes Riesenspielzeug. Zusätzlich dekoriert mit türkisfarbigen Seen und Lagunen, auf deren Oberfläche sich die steilen Felsgiganten des Parks in klaren Konturen spiegeln. Dramatisch der „Cascada Paine“-Wasserfall, an dem sich der Rio Paine an einer Felseninsel mit donnerndem Tosen vor einer majestätischen Felskulisse in die Tiefe stürzt.
Auch die Winde scheinen es in ihrer Intensität den anderen Elementen gleichtun zu wollen.
An Orten wie dem „Salto Grande“-Wasserfall drohen heulende und in ihrem Grimm nicht zu bändigende Fallwinde den überraschten Wanderer buchstäblich aus den Schuhen zu heben. Ist dies bereits die Einstimmung auf die Entdeckung Patagoniens von der Wasserseite her? Denn schon lässt das neue Reiseziel Kap Hoorn an der Südspitze des Feuerland-Archipels wegen seines zweifelhaften Rufs dunkle Vorahnungen aufkommen. Doch zum Zaudern ist es längst zu spät, denn gerade trennt sich die ansehnliche „Stella Australis“ im Hafen von Punta Arenas von der Kaimauer und entschwindet auf der Magellanstraße hinein ins Dunkel der Nacht.
Verschlungene Fjordlandschaft
Wider Erwarten bricht am nächsten Morgen nahe dem südlich gelegenen Marinelli-Gletscher die Sonne strahlend hervor und offenbart eine verschlungene, ja bizarre Fjordlandschaft. Selbst die drolligen Magellan-Pinguine auf den kleinen Tucker-Inseln scheinen es zu genießen, einfach am Strand zu sitzen, ohne von den berüchtigten patagonischen Winden sogleich fortgepustet zu werden. Erst später wird die Idylle für kurze Zeit gestört. Durch einen stürmischen Liebesgruß des Pazifischen Ozeans, dessen Imponiergehabe sich das Schiff durch Rückkehr in das schützende Inselgewirr des Feuerland-Archipels jedoch schnell wieder entzieht.
Bis hinein in den Beagle-Kanal, auf dessen spiegelglatter Fläche sich heute mehrere Buckelwale tummeln. Übermütig springen sie aus dem Wasser oder stellen kurz vor dem Abtauchen schnell noch ihre Schwanzflosse dekorativ zur Schau. Eine ganze Stunde lang dauert ihr munteres Spiel, bis die hoch aufragende Darwin-Cordillere sich einladend mit einem Fjord- Eingangstor öffnet. Ja, er ist es, der ersehnte Zugang zum Pia-Gletscher, der sich in seiner weißen Pracht auch heute wieder als einer der schönsten Gletscher des gesamten Archipels erweist. Bereits die Anfahrt zur steil aufragenden Gletscherwand löst spannungsvolle Erwartungen aus. Denn sind dort im sterilen Kreißsaal der Natur nicht bereits die Vorbereitungen für das Kalben des Gletschers in vollem Gange?
Aufsprühendes Getöse
Erinnert doch das ständige Knacken, das von der grellweißen Fassade ausgeht, an einsetzende Geburtswehen. Wird aber das Pressen der nachrückenden Eismassen ausreichen, um aus der sich auftürmenden Eiswand ein neues Stück Nachwuchs freizusetzen? Noch ist es nur ein gelegentliches Ächzen und Stöhnen, denn die Gletscherwand kreißt – und gebiert doch nur winzige Fehlgeburten. Das freudige Ereignis lässt also auf sich warten. So wird die Geduld der Zuschauer im Wartesaal des Pia-Fjordes auf eine harte Probe gestellt, wobei sich die Fantasie ständig beschäftigt mit der nicht unbedeutenden Frage nach der Stärke des zu erwartenden Fruchtwasser-Tsunamis.
Doch dann verwandelt sich die Starre der majestätischen Eisfassade urplötzlich in Bewegung. Denn krachend bricht eine riesige Zacke aus ihrer Krone, um sich sodann widerstandslos den Gesetzen der Schwerkraft zu überlassen. Donnernd und polternd trifft sie auf die Wasseroberfläche, die mit aufsprühendem Getöse den eisigen Koloss zunächst verschlingt, bevor sie ihn zur Freude aller Beobachter zumindest teilweise wieder an die Oberfläche entlässt: Geburt gelungen, Nachwuchs wohlauf, Warten gelohnt! Zur Feier des frohen Ereignisses kommt wenig später, wieder zurück im Beagle-Kanal, beim Schein der Abendsonne der legendäre „Gletscher Highway“ mit gleich fünf Gletscher-Taufpaten gerade recht.
Halbierung des Denkmals
Bis jetzt hat das Wetter für patagonische Verhältnisse erstaunlich gut gehalten. Selbst die durch Charles Darwins Beagle-Anlandung zu Ehren gelangte Wuleia-Bucht präsentiert sich in der Morgensonne mit üppig grünen Farben. Wird sich dieses unerwartete Wetterwunder jedoch bis Kap Hoorn fortsetzen, das bereits am späten Nachmittag erreicht werden soll? Denn schon trübt sich der Himmel leicht ein und lässt Schlimmeres befürchten. Doch dann die für alle befreiende Nachricht von der Brücke: Die Anlandung ist beschlossene Sache! Schon sausen wendige Schlauchboote knatternd los, um den kleinen Anlandungssteg neu zu befestigen. Und bereits wenig später sind die 160 Zickzack-Treppenstufen an der Inselsteilwand zum Aufstieg freigegeben.
Oben am Leuchtturm wartet bereits Marineoffizier Manuel Canepa, als offizieller chilenischer Inselrepräsentant mit seiner Frau und seinen zwei Kindern für ein ganzes Jahr lang der einzige Bewohner dieses lebensfeindlichen Eilandes. „Mit bis zu 240 Stundenkilometern Windgeschwindigkeit zugleich auch des stürmischsten“, wie Manuel respektvoll anmerkt. Mit einer Kraft, durch die er das auf der Spitze der Insel angebrachte Albatros-Denkmal bei einer seiner Attacken schon bald in einen Schrotthaufen verwandelte. Wie der Wind, so auch das Wasser: mindestens 800 Schiffe, so fügt Manuel hinzu, liegen als Opfer dieser tosenden Gewalten in Blickweite auf dem größten Schiffsfriedhof der Welt. Und er ist sich nicht einmal sicher, ob diese aufregende Statistik nicht sogar deutlich nach oben hin korrigiert werden muss.
Ziel erreicht
Auf dem Rückweg vom Inselleuchtturm zum Schlauchbootsteg ziehen weitere Wolken auf, und es fallen bereits die ersten Tropfen. Doch kaum jemand interessiert sich noch dafür, wurde doch das ersehnte Ziel gerade noch einmal erreicht. Und schon winkt Ushuaia als die südlichste Stadt der Welt mit dem Heimflug. Wie nicht anders zu erwarten, hat Barkeeper Claudio an diesem Abend wieder einmal alle Hände voll zu tun.
Reiseinformationen „Patagonien“:
Anreise: Günstig mit LAN Airlines tgl. ab Frankfurt am Main via Madrid nach Santiago, weiter nach Punta Arenas, www.lan.com. Von dort Landtransfer nach Puerto Natales zum Torres del Paine NP. Ab Punta Arenas Expeditionskreuzfahrt mit Cruceros Australis, Patagonien – Feuerland – Kap Hoorn, www.australis.com. Rückreise: Flug Ushuaia – Buenos Aires – Sao Paulo – Frankfurt auch mit TAM Airlines, www.tamairlines.com
Einreise: Es genügt ein noch 6 Monate gültiger Reisepass. Einreiseformulare bei Einreise.
Reisezeit: Beste Reisezeit Ende September bis Anfang April (Jahreszeitenverschiebung auf südl. Erdhalbkugel!)