Wutbürger Faust ? – Frank Matthus inszeniert Goethes Tragödie Teil I und II im Theatersommer Netzeband

Für das Dorftheater in der Prignitz hat Matthus das Synchrontheater erfunden. Der weite Raum des unterhalb der Temnitzkirche gelegenen Gutsparks bestimmt eine ganz eigene Ästhetik: große Gänge, große Gesten, große Horizonte für große Begebenheiten – Platz für wechselnde Bühnen in der Breite und Tiefe des Raums. Nur mit der Akustik ist es schwierig. Der Ort trägt die Stimme nicht. Der Ausweg: die Stimmen werden vorproduziert und über Lautsprecher abgespielt. Die Darsteller bewegen sich zum Text und tragen zum Teil Masken – eine Verfremdung, durch die die Fabel gestisch verstärkt wird. Als Schauspieldirektor am Theater war Matthus froh, wenn der Kelch an ihm vorüber ging: »Gott bewahre mich vor Faust und Hamlet.« Nach Erfahrungen mit »Macbeth« (2006/2007) und der Nibelungen-Trilogie (2008 bis 2010) kam Matthus schließlich die Idee für Fausts Höllenfahrt durch das Leben.

Was macht Faust heute interessant? Kann man ihn noch spielen?

Frank Matthus sieht Faust als wütenden jungen Menschen, intelligent, ungeduldig, ein Gelehrter, dem sich die Natur verschließt, und der die Sinnlosigkeit und Sterilität der Wissenschaft satt hat (den Zustand der Philosophie vor Hegel und Marx). Er kommt nicht weiter und könnte vor Wut Autos anzünden. Er flüchtet sich in Sex, Drugs und Rock ´n Roll, sucht Heilung im Hexenzauber – genau die Stimmung, in der Mephistopheles sich an ihn heranmachen kann, nachdem er sich den Segen der »höchsten Stelle« geholt hat. Er will ihn an seiner Unersättlichkeit kaputt machen. Und da kippt die Figur. Faust will nichts mehr zerstören, sondern Taumel, Genuß, Haß und Verdruß , alles, was der ganzen Menschheit zugeteilt ist, in seinem »inneren Selbst genießen.« Dies die Version von Goethe. Der Wutbürger ist er nicht mehr, kann er nicht sein.

Das Schöne am »Faust« ist, dass man viel streichen kann (und muß). Matthus versteht es, die Geschichte auf ihren Kern einzudampfen, zum Beispiel klappt die Begegnung Fausts mit Gretchen ohne Frau Marthe und ohne teure Geschenke. Mephisto animiert den endlos redenden und redenden Faust zum »Anfassen«, indem er ihn zu John Lennon`s »Woman« mit Gretchen tanzen lässt (Die Zuschauer sind amüsiert. Mal etwas, was sie kennen). Der Teufelspakt wird auf Handschlag geschlossen, ohne Blut und Unterschrift (die vielen Zeitgenossen zum Verhängnis wurde). Ein interessanter, aber logischer Kunstgriff: Mephisto forscht Faust zunächst aus (in der Hexenküche), bevor er ihn dem Herrn abhandelt (im Prolog im Himmel). Ein wunderbarer Regieeinfall ist die Liebesnacht Fausts und Gretchens, unterlegt mit dem Osterspaziergang.

Der Tragödie zweiter Teil überrascht durch den bereits beim Dichter angelegten Realismus der Gnadenlosigkeit des Frühkapitalismus im Gewande des Absolutismus. Der »Rebell« verbürgerlicht. Er verdingt sich beim Kaiser und erfindet (auf Mephistos Einflüsterung hin) die Banknote auf der fiktiven Goldbasis der im Boden des Reiches lagernden Schätze und kurbelt damit eine Scheinkonjuktur an. Ein Nachbarreich zerschlägt er mit einer ultimativen Vernichtungswaffe, und wo er dem Meer Land abgewinnt, geht das Werk des technischen Fortschritts nicht ohne Mord ab: Philemon und Baucis werden mit Feuer »entmietet«. Fausts Seelenrettung durch »den Herrn« versinnbildlicht schließlich nichts anderes als die Bedingungslosigkeit der universalen Gesetze.

Ein Spaß für sich sind Frank Matthus‘ Ex tempore:
Der Dichter:
»Blick dich doch um! – an jedem Orte
Will man Kultur – egal, von welcher Sorte!
Und da, wo was zugrunde geht,
Sagt man, dass hier Kultur entsteht.
Mach buntes Licht, lass Feuerkörper knallen
Verkaufe Bier, und schon gefällt es allen.
Wo früher mal  T h e a t e r  war
Sucht Deutschland heut den Superstar!
Und alle wolln nur eines: sich verkaufen!
Versuch du nur, da hinterher zu laufen!«

Matthus und sein Team schaffen es, das Mammutwerk so anregend zu inszenieren, dass man mit Aha und Oho drei Stunden lang zuschauen kann. Die Schauspieler, Ton, Licht, Wald und Himmel, Kostüme und Masken schaffen den ganz eigenen Zauber der nächtlichen Vorstellung. In Netzeband hat sich ein Ensemble gefunden, in welchem Laien von Profis kaum zu unterscheiden sind. Faust (Joseph Birke) und Gretchen (Lisa Mellin) sind – wie  die meisten Darsteller – Laien, Mephisto (Judith Steinhäuser) und der Theaterdirektor/ der alte Faust (Andreas Klein) Berufsschauspieler. Die Begeisterung der Schüler und Lehrlinge der Region lässt nicht nach. »Neue« ersetzen die Mitglieder, die zum Studium weg- oder der Arbeit hinterher ziehen müssen. Garanten der Qualität sind die Stimmen bedeutender Schauspieler wie Corinna Harfouch (Mephisto), Tom Quaas (Faust), Regula Fischbach (Gretchen), Andreas Klein (der Herr), Helmut Büchel (Kaiser), Uschi Schneider, Johanna Geißler, Judith Steinhäuser, Angelika Koppmann, Adrian Linke, Frank Matthus und und… Masken: Jana Fahrbach, Kostüme: Mareike Porschka, Technische Leitung: Marc Herrmann.
2013 bis 2015 folgt die Shakespeare-Trilogie des Theatersommers: Der Sturm, Die lustigen Weiber von Windsor und Richard III.

Von Netzeband nach Rheinsberg, von Goethe zu Mozart

Während Frank Matthus großzügig den Rotstift angesetzt hat, erleben wir tags darauf bei Matthus senior in der Kammeroper Rheinsberg Werktreue pur: »Die Hochzeit des Figaro« von Wolfgang Amadeus Mozart, opera buffa in vier Akten, Spieldauer dreieinhalb Stunden, inszeniert von dem Schweizer Regisseur Marco Arturo Marelli und dirigiert von Michael Helmrath. Sogar Originalkostüme wurden von der Kostümbildnerin Dagmar Niefind aus Wien herangeschafft.

Ohne in die Einzelheiten zu gehen, besticht vor allem das hohe Niveau der Sängerinnen und Sänger. Die Kammeroper Rheinsberg wurde von Siegfried Matthus, Kurt Masur und Harry Kupfer gegründet als Schule und Bewährungsfeld für junge Sängerinnen und Sänger, um ihre Chancen für ein Engagement zu verbessern. Alljährlich wird ein Wettbewerb von 300 bis 400 Bewerbern organisiert, von denen die Besten für die Rollen des Repertoires ausgewählt werden. Hier können sie eine Traumrolle singen und den langen Atem für ein abendfüllendes Stück üben – eine Qualität für sich. Überzeugend die Brasilianerin Lindsay Funchal als Susanna, Sarah Tuleweit als Gräfin Rosina, Linda Hergarten als Barbarina, Carolin Löffler als Cherubino und die Puerto-Ricanerin Celia Sotomayor als Marcellina sowie Manos Kia als Figaro und Alec Avedissian als Graf Almaviva. Eine geschlossene Leistung. Regisseur, Dirigent und Korrepetitoren volbringen hier Wunder.

Freilich gibt es einen Bruch, denn am Ende des 3. Akts steht ein Happy End: die Intrige Marcellinas ist (so unecht sie gewesen sein mag) zusammengebrochen und Figaro und Susanna haben sich endlich »gekriegt«. Danach könnten die Zuschauer zufrieden nach Hause gehen. Nun klebte Mozart noch ein Verwirrspiel an, in dem die Männer ihre Frauen nicht erkennen dürfen und sie als die begehrte Andere verführen müssen. Das glaubt kein Mensch, aber der Meister hat es einst so konstruiert, so langweilig wie entbehrlich. Aber wer darf es wagen, auf den vierten Akt mit seinen »Ohrwürmern« zu verzichten? So wird das Werk abgespult, auch wenn es niemand mehr ernst nehmen kann.

Reiz und Dynamik der Mozartschen Musik werden gestützt vom Orchester – den Brandenburger Symphonikern. Mögen sich andere, klassische Konzertorchester als hervorragende Opernorchester rühmen – hier erlebt man ein erfahrenes, flexibles, souveränes Opernorchester. In Brandenburg hat die Landesregierung im zehnten Jahr der »deutschen Einheit« das Opernensemble und den Opernchor weggespart. Das bewährte Orchester aber wird mal in Brandenburg, mal in Potsdam, mal in Stendal und mal in Rheinsberg für »Projekte« eingesetzt. Es darf dankbar sein, dass es noch existiert. Am Rüstungsetat wird nicht gerüttelt, am Kulturetat aber sehr wohl. Nur eines der Verbrechen, das in der Fiskalpakt-Gesellschaft an Künstlern begangen wird. Statt eines Rettungsschirms gibt es hier den freien Fall.

Johann Wolfgang von Goethe, Faust I und II, Aufführungen am 10., 11., 17., 18., 24., 25., 31. August und 1. September, jeweils 20.30 Uhr.  Am 31. August, 23 Uhr Benefizkonzert »Dagmar Manzel singt Hanns Eisler«, 1. September 2012, 23 Uhr, Die Comedien Harmonists vom Theater Hof. Kartentelefon: 033931 – 39296, Website: www.theatersommer-netzeband.de

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