Wie kommen die Löcher in den Käse? – Der Reichstag oder ARTE zeigt eine interessante Geschichte eines »deutschen Hauses» von Regisseur Christoph Weinert

Die Ehe für alle - beschlossene Sache im Berliner Reichstag.
Ein Lichtherz vorm angestrahlten Reichstag in Berlin ist ein seltener Anblick. Quelle: Pixabay, BU: Stefan Pribnow

Berlin, Deutschland (Weltexpress). Fast könnte man dem Regisseur Christoph Weinert bescheinigen, dass er das sauber hinbekommt, was auch am Schweizer Käse das Besondere ist – die Löcher. In seinem Film – vornehm Dokudrama genannt – »Der Reichstag – Geschichte eines deutschen Hauses» – schildert er die Geschichte des Prunkbaus breit und ausladend. Dieser ist für ihn Bühne und Spiegelbild der deutschen Geschichte. Alles schön und gut, geeignet zur Verherrlichung des Wahrzeichens des nach der Niederwerfung Frankreichs im Krieg 1870/71 erstarkten deutschen Imperialismus. Hinzuzufügen wäre: Der Sieg über Frankreich war für die Errichtung des Reichstags auch deshalb bedeutend, weil fünf Milliarden Franc französische Reparationen in deutsche Taschen und insbesondere in die Wirtschaft geflossen waren und weil sich das Kaiserreich ohne weiteres einen Protzbau von 29 Millionen Mark leisten konnte. Liest man die Inschrift über dem Portal– »Dem deutschen Volke» – und sieht man die Aufnahmen von der Wohnungsnot und dem Elend des Berliner Proletariats, beantwortet sich die Frage von selbst, wem im »deutschen Volke» der Bau gewidmet ist und wem nicht.

Zurück zu den Löchern im Käse. Trotz der ausführlich erzählten Geschichte fällt auf, was im Film fehlt. Zum Beispiel wird berichtet, dass der Reichstag im August 1914 die Kriegskredite für den Krieg gegen Frankreich und Rußland bewilligte. Nicht erwähnt wird, dass bei der nächsten Abstimmung am 2. Dezember 1914 einer den Mut hatte, dagegen zu stimmen: Karl Liebknecht. Wenn schon bestimmten Ereignissen historische Bedeutung beigemessen werden soll, ist Liebknechts Entschluss gravierender als die im Parlament üblichen Routineentscheidungen.

Sehr dramatisch wird der Mord an Außenminister Walther Rathenau im Jahre 1922 geschildert. Die Ermordung Liebknechts am 15. Januar 1919 wird nicht erwähnt, des Mannes, der als Politiker ebenfalls und eben auch im Reichstag von außergewöhnlichem Format war.

Ganz im Sinne der offiziellen Geschichtsschreibung erzählt der Historiker Wolfram Pyta, Direktor der Forschungsstelle Ludwigsburg der Universität Stuttgart zur Erforschung der NS-Verbrechensgeschichte, dass Marinus van der Lubbe als Urheber des Reichstagsbrands ermittelt und verurteilt worden ist. Bis heute sei unklar, ob er es allein gewesen sei. Die Geschichtswissenschaft habe keine evidenten Quellen. Man könne hinterfragen, ob van der Lubbe Helfer gehabt habe oder instrumentalisiert worden sei und von wem. Der Vorgang sei weiterhin unklar und werde es wohl bleiben, sofern nicht neue Quellen auftauchen. Der Gelehrte deutet nicht einmal an, dass es Leute gibt, die glauben nachweisen zu können, die SA unter Federführung Hermann Görings habe den Brand gelegt (Literaturhinweis: Alexander Bahar und Wilfried Kugel, Der Reichstagsbrand. Wie Geschichte gemacht wird, Berlin 2001 und Der Reichstagsbrand – Geschichte einer Provokation, Berlin 2013. Der Papyrossa-Verlag merkt an, dass die Autoren 50.000 Blatt Akten der 1933er Kommission zur Untersuchung des Reichstagsbrands ausgewertet haben, die in Moskau und in der DDR lagerten).

Das Kapitel »1945» heißt im Film »Der Untergang». Andere sehen es als Befreiung vom Faschismus, doch das ist eine Frage des Standpunkts. Die Rote Armee führte auch auf den Reichstag einen massiven Angriff, aber eigentlich, meint der Historiker, war das ein Irrtum der Sowjets. Der Reichstag sei kein politisches Zentrum mehr gewesen, sondern eine Ruine. Und die Bilder vom Hissen der roten Flagge auf dem Reichstag wurden zwei Tage später nachgestellt und mit einer anderen Fahne. Die erste war am 30. April um 23 Uhr gehisst worden. Na sowas. Ähnliches wird berichtet vom Hissen der amerikanischen Flagge auf Guam am 21. Juli 1944 oder auf Iwojima am 23. Februar 1945. Alles falsch!

Oder: Der Architekt Norman Foster erzählt, wie die Bauleute die Inschriften freigelegt haben, mit denen sich die sowjetischen Soldaten an Wänden und Säulen des Reichstags verewigt haben. Das macht neugierig. Was davon heute noch zu sehen ist, wird nicht gesagt.

Geschichte ist widersprüchlich, und die Geschichtsschreibung balanciert ständig zwischen den Blickwinkeln der Sieger oder der Besiegten. Weinert ist den Weg der Anpassung gegangen. Da kann er nicht anecken. Wo er einen großen Bogen vom Kaiserreich zum »positiven Symbol für das wiedervereinigte Deutschland» schlägt, verbirgt sich hinter dem »Zentrum der politischen Macht in Deutschland» die Wiederherstellung der ungeteilten Macht des deutschen Imperialismus.

Auch hier fällt wie in allen Geschichtsdokus, Podiumsdiskussionen, Konferenzen oder Geschichtsbüchern auf, dass es DDR-Historiker oder marxistische Historiker als Quellen nicht gibt. Zum Beispiel hatten die Bundeszentrale für politische Bildung und die Technische Universität Dresden 2013 eine wissenschaftliche Konferenz über »Das System des Kommunismus» veranstaltet, zu der kein einziger marxistischer Wissenschaftler eingeladen war. Der Schüler, Leser oder Zuschauer soll sich zu eigen machen, was die herrschende Klasse denkt. Dergleichen Filmen ist die Hauptsendezeit sicher.

Der Reichstag – Geschichte eines deutschen Hauses, Dokudrama von Christoph Weinert, ARTE/NDR/rbb, Deutschland 2017, 81 Minuten, Erstausstrahlung auf ARTE, Dienstag,19. Dezember, 20.15 Uhr

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