Das eine Gebilde sieht wie ein Apfel aus, verschrumpelt und von der Seite wird’s zum Herzen, denn Umrunden muß man dieses baumelnde Schwergewicht schon, um festzustellen, daß das Runde auch eckig sein kann. Es sieht aus, als habe der Künstler, Antony Gormey aus England, aber auch im übrigen Europa zu Hause, Eisenplatten aneinandergefügt und diese zuvor gerundet und mit Nähten zu einem Etwas verschweißt, was von hier wieder wie eine Birne aussieht und schaut man von oben hinein, wo das Seil durch die Öffnung führt, so wölben sich ganz eindeutig Hinterbacken, die zum After und seinem Loch führen, Assoziationen, die das Ding einfach hervorruft, bei dem man sich eines ganz gewiß nicht wünscht, daß es einem auf die große Zeh falle.
Das gilt erst recht für den noch gewichtiger aussehenden merkwürdig geformten Punching Ball, der hier in die Breite gezogen, auch nur ein paar Zentimeter Luft zum Boden hat und auf Leder kamen wir nicht so sehr seiner gegerbten Oberfläche, sondern vor allem der Noppen wegen, die hier – zu welchem Behufe? – aus dem dann als geriffeltes Eisen wahrgenommenen zusammengestückelten Rundflächen ragen. Auch hier verändert sich die Erscheinung ständig, umgeht man diese: eine zuerst runde, dann breite, auf einmal herzförmige Skulptur. Hier verlaufen die am ersten Gebilde als Geraden wahrgenommenen Schweißnähte in der Horizontalen stark geschwungen – extrem sogar – und schnurrgerade in der Vertikalen, aber nimmt man das erst einmal wahr, fallen einem beim ersten kleinen Ding ebenfalls Rundungen in der Leibmitte auf und beim zweiten, daß sich die gebogenen Linien ebenfalls an der breitesten Stelle – von uns als Leibmitte charakterisiert – horizontal lang ziehen, dann aber oben und unten glatt verlaufen.
Die beiden Majestäten brauchen keine Beschriftung an den kühlen glatten Wänden und uns wird nicht einmal eine Sitzbank geboten zum Betrachten oder Schreiben. Liegt es daran, daß die durchaus zahlreichen Besucher nach Blickkontakt schnell nach oben entschwinden? Das Begleitheft, das wir uns aus Prinzip erst nach dem persönlichen Kennenlernen von Objekten zu Gemüte führen, klärt uns dann auf: Wir sehen FRUIT und BODY vor uns, zusammen sieben Tonnen rostigen Eisens schwer, aus der Reihe Expansion Works von 1990 bis 1994. Und die Formen „basieren auf der Abgußform eines Körpers in der Startposition eines Schwimmers vor dem Sprung ins Becken.“ Aha, aber wir sind es zufrieden.
Der erste Stock bringt das Gegenteil der Leere von unten: 300 lebensgroße Quader nach den Maßen von Einwohnern Malmös im Alter von eineinhalb und achtzig Jahren. Das steht an der Wand und wird als ALLOTMENT II von 1996 bezeichnet, darunter Zahlen und Namen, von denen wir eine Reihe durchzählen, auf 60 kommen, was bei den fünf Reihen tatsächlich die Zahl Dreihundert ergibt. Deutsche und Juden können wahrscheinlich bei Ziffern und folgenden Namen gar nicht anders als an KZ-Opfer zu denken. So geht es uns auch hier und die rechteckigen Quader in allen Größen erinnern auch an bekannte Mahnmale, worum es aber hier überhaupt nicht geht. Was also soll das Ganze, was wir sicherlich nicht durchzählen werden, denn das ganze Stockwerk steht gerammelt voll. Dann bemerken wir, daß das das von uns als kleiner Block auf einem großen wahrgenommen Kind mitnichten eines ist, sondern den Kopf darstellt, so daß wir einen fast archaischen Menschenklotz vor uns haben. Und das gleich dreihundert Mal.
Begibt man sich hinein zwischen die Stelen – was nicht ausdrücklich verboten ist – so fühlt man sich schnell wie in einem Labyrinth und ist um die vier festen Wände froh, die Orientierung geben. Jeder Kopf hat zwei Ohröffnungen und einen Mund, einen Bauchnabel und eine Afteröffnung (?) auf jeder Breitseite und ansonsten eine schlierenartige Oberfläche, die uns in Verbindung mit den vielen vielen übermalten Astlöchern nun an Holz denken lassen, unbehandelt und mit dicker Schlemmkreide übermalt. Auf der Rückseite stehen die Ziffern, anhand derer wir nun die Nummer 195 als Olof Borgeke identifizieren, die 258 als Kind Emma Guiomar und 261 ebenfalls klein muß Clara Cederholm sein.
Wie Antony Gormley auf diese Idee kam und was sie aussagt? Das Begleitheft sagt, er hätte damit den ’zweiten Körper der Architektur“ schaffen wollen. Die 300 Personen wurden speziell vermessen und die Maßangaben wurden exakt übertragen, so daß sich die Haltung des Kopfes genauso wiederfindet, wie die Lage von Körperöffnungen. Das alles wurde auf Stahlbetonhüllen übertragen und Sinn des Ganzen ist eigentlich die Verschiedenartigkeit, die sich hier zur Gemeinschaft fügen und den Raum füllen und dem Betrachter ein Raumerlebnis bieten. Seltsam, aber irgendwie brauchen wir die Erklärungen gar nicht. Was sich bei uns im Kopf als Bild festsetzte, ist diese Fülle, dieser Wald von Stelen, die durch die kantigen nach oben strebenden Formen aber nichts Chaotisches erhalten, sondern einfach da sind.
Im zweiten Stock wird der Betrachter dann zum Teil des Kunstwerks. Die auch auf dem Ausstellungsplakat gezeigten vierkantigen endlosen Eisenschnüre, die zu Schlaufen gewickelt vom Boden bis zur Decke reichen, Clearing V, 2009, lassen uns erst einmal an unseren Ex-Schwager aus Schweden denken, der dort Eisenbieger war, eine furchterregende männliche Tätigkeit, die unter Hitze und Muskelkraft zustande kommt. Hier ist das Gewirr der nicht endenwollenden Rundungen, die nur an den Seiten, dem Boden und der Decke hin und wieder mit Draht zusammengebunden sind, als Durchgang zu nutzen, will man zum nächsten Stock gelangen. Eine abenteuerliche Geschichte, denn das Durchqueren der am Boden reifenförmig liegenden Eisenschnüre erfordern Geschicklichkeit und wir mögen uns nicht vorstellen, was passiert, wenn jemand stolpert. Aber klar ist auch, daß hier jeder auf seine Schritte stärker als gewöhnlich achtet. Steigt man hinein, hat man gleich – nein, kein Brett vor dem Kopf -, aber doch ein Eisen an der Birne und fühlt nun, daß die silbrig glänzenden Drähte, Aluminiumrohr, die Eisenbeschaffenheit durch den dunklen Überzug nur vortäuschen sollen, was bei uns gelungen ist.
Im nächsten dritten Stock hängt ein, an den Füßen Aufgehängter und den Oberkörper Hochbeugender mit an der nicht vorhandenen Hosennaht angelegten Armen. Ein haarloser Mann mit Strumpfmaske über dem Gesicht, wie das vorgewölbte Glied verrät und die beiden kleinen aufgesetzten Rundungen sollen nicht die Brustwarzen andeuten – zu dicht an der Speiseröhre – und finden sich zudem an den Oberschenkeln wieder. Das Material erscheint aus Metall, dunkel oxydiert. Schaut man von hinten, sieht man, es waren verdeckte Schrauben, die man von vorne sah und die von hinten als Schraubmuttern angezogen sind.
Dann wird es lustig und schaurig zugleich. Denn der Aufgehängte ist nicht allein. Sehr beeindruckend wie hier Körperlandschaften; CRITICAL MASS II, 1995, im Raum liegen, stehen, hängen, hocken, kopulieren – denkt man, geht aber technisch gar nicht. Zusammengefaltete mit rundem Rücken erinnern an Schildkröten, andere liegen auf dem Rücken, die Beine angezogen und den Kopf zwischen den Knien, sogenannte Schlangenmenschen mit beweglichen Knochen, aber das Ganze hat auch etwas von einer gymnastischen Übung oder Yoga.
Liegt das daran, daß wir nur Männer sehen, denn auch im Menschengetümmel in der Raummitte, wo einzelne Figuren in verschiedenen Körperhaltungen wie Holz auf dem Scheiterhaufen auf- und übereinander geschichtet sind, erkennen wir nur Männer. Sind wir froh, eine Wölbung zu erblicken und eine Brust zu erwarten, ist es wiederum nur eine männliche Pobacke. Seit den häufigen Besuchen in orthodox islamischen Ländern, wo man öffentlich tagelang keine offen erkennbare Geschlechtsgenossin sah, fällt uns die alleinige Anwesenheit von Männern auf, sei es als Skulpturen von Gormley oder lebendige auf Pressekonferenzen von Banken und Autofirmen.
Was das soll? Können wir auf’s Erste auch nicht beantworten. Aber auch ohne mehr zu wissen, beeindruckt uns die künstliche Menschenansammlung einfach als Bild im Raum. Es herrscht einfach eine Spannung zwischen der Anhäufung dieser dunklen Gestalten als Masse und ihrer so überaus betonten individuellen Haltung, die starr und unnatürlich wirkt und Schmerz ausstrahlt, obwohl das Material einem gefühllos und fühllos vorkommt. Bei dreißig Leibern haben wir zu zählen aufgehört und schätzen, es müssen doppelt so viele hier anwesend sein im obersten Stock des Kunsthauses in Bregenz mit den geschliffenen schönen Wänden – das können wir nicht oft genug betonen – und dem diffusen Licht, das so dicht am Bodensee dennoch keinen Ausblick auf ihn gönnt. Und während wir schauen, wird uns klar, daß wir überhaupt keine Skulpturen gesehen haben, sondern unser Gedächtnis in jedem Stockwerk ein völlig unterschiedliches Bild gespeichert hat. Auch diese Einzelfiguren wirken nicht einzeln, sondern als Ensemble, das mit visueller Kraft uns ins Hirn dringt.
Wetten, daß sich an diese „Bilder“: die beiden Teile Frucht und Körper im Erdgeschoß, die Hohlblöcke im 1. Stock, die Draht/Eisenverschlingungen im 2. Stock und die Menschenleiber im obersten, jeder Besucher noch Jahre danach erinnern wird. Dann zumindest, wenn man erst einmal mit offenen Augen und aufgesperrtem Kopf sich bei zeitgenössischen Künsten selber auf den Weg macht und sich mit den Dingen selbst auseinandersetzt. Danach ist es gut, vom Begleitheft bestätigt zu bekommen, was den Künstler treibt: „Seit 1990 gilt sein erweitertes Interesse am Zustand des Menschseins der Erforschung des kollektiven Körpers und der Beziehung zwischen dem Selbst und dem Anderen in groß angelegten Installationen ”¦“.
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Ausstellung: bis 4. Oktober 2009
Der Katalog lag noch nicht vor, erscheint aber im August und wird spannend zu lesen sein, weil moderne Künstler zu interpretieren, bei Körperkunst oder Kunst mit Körpern oder an Körpern erst recht interessant wird. Mitautor Antonio Damasio gilt vielen als Kult.
Inzwischen ist der Katalog erschienen und hält, was wir versprachen: Antony Gormley, hrsg. Kunsthaus Bregenz, mit Beiträgen von Antonio Damasio, Yilmaz Dziewior und Marcus Steinweg, Kunsthaus Bregenz 2009
Der deutsch/englisch verfaßte Katalog hat vor allem etwas, womit wir nicht gerechnet hatten, eine außerordentlich lesbare Seite! Das bedeutet, daß die Schrift groß gestaltet ist, aber an den Rändern die Seiten nicht füllt, so daß man mit Bleistift sehr gut seine eigenen Gedanken dazu formulieren kann. Denn die hat man. Gibt schon das Werk selbst Rätsel und eigene Antworten auf, so potenziert sich das, wenn andere über andere schreiben. Ob man schlauer wird? Darum geht es nicht, aber man lernt so nebenbei, wieviele Zugänge es zur Kunst der Gegenwart gibt. Vielleicht sogar so viele wie Menschen, die diese Kunst betrachten. Und damit das nicht wahr wird, werden einem auch Kriterien an die Hand gegeben, sowohl kunsthistorischer wie erkenntnisphilosophischer Natur.
Das umfangreiche Begleitprogramm entnehmen Sie bitte der Webseite