Dies ist eine Anmerkung. Eine noch nicht einmal komplett zitierte Anmerkung zu dem Satz „Das meine ich nicht, meinen ersten Drink hatte ich erst viel später.“ Der Ich-Erzähler Gabriel erklärt seinen Vater am Taschentelefon, warum dieser ihn doch bitte aus der Geschlossenen Therapie abholen möchte. Sein Leben ist im Eimer. Hier, nördlich von London, darf der Fünfundzwanzigjährige mit Selbstmordabsichten also erstmals nachdenken. Warum alles schief gegangen ist, seine Freundin weggelaufen, die letzte Aktion seiner antikapitalistischen Gruppe so in Hose gegangen ist und sein Leben bisher ein einziges Verplempern und Sich verabschieden war, ohne zu wissen, wovon.
Doch jetzt zieht das Tempo dieses junges Gauner/Gammlerlebens erst richtig an. Gabriel Brockwell flieht aus der Anstalt und macht sich mit der Kohle seiner Terrortruppe und den Drogen seiner WG auf die Reise, auf einen abenteuerlichen Trip, der höchstwahrscheinlich nicht am Strick endet. Was auf den folgenden gut dreihundert Seiten passiert, ist ein Alptraum Victor Pelewins mit japanischen Innenraumeinschüben, noch gesteigert durch Berliner Jetztzeit-Topografie. Weiße Räume, Mega-Aquarien, nächtliche Parks und Kellerrefugien. Mädchen, Drogen, Dekadenz. Dirty But Clean Peter, so das ausgeschriebene Pseudonym des späten Autors, weiß wovon er schreibt. Es wird getrunken, gezogen, gekotzt und deliriert. Die neunziger Partyjahre Berlins werden reflektiert, ein grandioser Abgesang zum Flughafen Tempelhof inklusive. Peter Finlay alias DBC Pierre gelang es immerhin tatsächlich, von seinem Nachbar in Mexiko-Stadt angeschossen zu werden, Schulden in Höhe von 100.000 Dollar anzuhäufen, drogen- und spielsüchtig zu werden und eine Reihe Frauen zu hintergehen. Für ihn endete der Trip bisher erfreulich, er wurde therapiert, begann zu schreiben und heimst nunmehr Preise ein. Das Buch Gabriel ist sein dritter Roman, welcher den Leser vor allem durch die pseudo-philosophischen Extrakte zu erfreuen weiß. Denn Gabriel, unser Visionär und Bote Gottes, irrlichtert durch die wenigen Tage, die das Buch erzählt, wie ein superreicher geisteskranker Bohemien auf der Suche nach dem endgültigen Kick. Nebenbei muss einem Freund das Leben gerettet werden, ein alter Versager besänftigt, ein Stasi-Typ gewonnen und eine Liebe geortet werden. Das ist viel für einen Todessehsüchtigen, aber der Autor kriegt das hin. Armer Gabriel, wir möchten dich gar nicht (alleine) ziehen lassen, in die Abgründe Berlins, und getroffen haben wir dich dort schon längst”¦
„Ich versuche noch, meinen Mantel um mich zu ziehen, stelle aber fest, dass mein Hosenstall sperrangelweit offen steht, meine Unterhose fehlt und mein Gürtel immer noch nicht geschlossen ist. Ein Klumpen Unverdautes hievt sich in meinen Mund. Als ich ihn runterzuschlucken versuche, fängt meine Nase an zu bluten wie ein laufender Wasserhahn. Ich spucke den Klumpen aus und halte mir einen offenen Hemdsärmel unter die Nase, wobei ich so tue, als müsste ich mir das Haar richten, und mit einem Finger Strähnen von links nach rechts schiebe.“ Und in diesem Moment betritt die schöne Anna die Szene.
Fazit: rasant, abgründig, bitterböse, herrlich! aufwendig und stimmig übersetzt, geschmackvoll ediert und illustriert – die perfekte Lektüre für halluzinationsaffine Freunde der langen Nächte und eines eher kurzen Lebens, nicht weihnachtsbaumgeeignet!
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DBC Pierre, Das Buch Gabriel, aus dem Englischen von Kirsten Risselmann, 380 Seiten, Eichborn Verlag, September 2011, 19,95 €