Dennoch ist hier etwas ganz neues entstanden. Ebenso wie in seinem letzten Roman führt Martel in „Ein Hemd des 20. Jahrhunderts“ einen Ich-Erzähler ein, der einen Roman schreiben will. In der Rahmenhandlung wird der Schriftseller scheinbar selbst als Schablone benutzt, diesmal lebt er in einer großen Stadt, Paris, Berlin oder wo auch immer, mimt ein wenig den Hobby-Schauspieler, führt seinen Hund spazieren und wartet darauf, dass seine Freundin das gemeinsame Kind zur Welt bringt. Zuvor hatte sich dieser Schriftsteller namens Henry vergeblich bemüht, an den Riesen-Erfolg des letzten Buches anzuknüpfen. Mit einer etwas sperrigen Idee, sowohl einen Essay als auch einen Roman über den Holocaust in einem Buch miteinander zu verbinden, scheiterte Henry bei Agenten und Verlegern. Und verkroch sich. Was ihn nun erreicht, sind Leserbriefe aus aller Welt. So auch ein Brief aus der gleichen Stadt, der einen Auszug einer Erzählung von Flaubert enthält und ein Theaterstück, das vom „Schrecken“ handelt. Außerdem bittet der Briefschreiber den Autor um Hilfe. Neugierig geworden, besucht Henry den Absender der Botschaft und landet direkt bei oben beschriebenem Okapi, in einem Taxi-Dermi-Geschäft.
Genau jetzt wird alles ganz anders. Wir kennen die Liebe des Autors zum Tier und all seinen Besonderheiten, oder lebendig oder präpariert. Aber was uns Martel in diesem angestaubten Laden für Tierpräparate mitten im heutigen Europa vorführt, ist eine außergewöhnliches Lehrstück. Mit Witz und Tücke, listig und spielerisch schleicht der Autor sich in die Thematik ein, schiebt uns durch Hintertürchen und dunkle Gänge, über blühende Wiesen und weite Felder in diese Bleikammer des Grauens. Wir stehen da und erstarren. Ach so, das hat er gemeint”¦ Ich gebe zu, ich habe geweint. Dieses Buch ist schnell gelesen und nicht mehr zu vergessen! Es rührt an tiefe menschliche Ängste und Instrumentarien des Banalen, die nur kaschieren, was wirklich passieren kann. Es ist alles schon geschrieben, alles schon versucht worden, das Unbegreifbare in Worte zu fassen, meint Martel am Beginn des schmalen Buches. Aber er versucht es dennoch, so unfassbar leicht und verzaubernd, dass wir es eine ganze Weile nicht begreifen.
Da sind der Affe und die Eselin, Vergil und Beatrice. Sie stehen präpariert im Hinterzimmer des Ladens. Gleichzeitig leben sie in der Phantasie und auf dem Papierwust des Ladenbesitzers, ihres Präparators, fort. Gemeinsam mit dem Schriftsteller erfahren wir mehr und mehr von diesem Theaterstück, das um die beiden tierischen Protagonisten rankt und lose auf einzelne Blätter geschrieben wurde. Wir begreifen schließlich, was „ein“ Hemd dieses letzten Jahrhunderts sein mag. Ein Kleidungsstück, das sich beliebig überstreifen und zuknöpfen lässt. Auf dem Hemd leben Bewohner, wie es auf der Hose und den Schuhen welche gibt. Manchmal ist das Hemd ein ganzes Land. Manchmal verfällt ein ganzes Land in den „Schrecken“, oder wie Vergil sagt: „Die Gräuel sind ein schmutziges Hemd, das dringend in die Wäsche muss. Beatrice: Ein sehr schmutziges Hemd. (Schweigen)“
Mehr darf nicht verraten werden. Was Martel hier konstruiert hat, ist von tiefer Poetik durchdrungen und durch die immanente Wahrheit höchst aktuell. Der Brand der Scham erfasst nicht nur den Leser, sondern Teile des Buches selbst”¦ Dieses Buch will erarbeitet und durchlitten sein! Dank an das geniale Übersetzerpaar und die schöne Einrichtung des Buches. Lieber Verlag, bitte bei der sicherlich folgenden 2. Auflage den Klappentext hinten aktualisieren!
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Yann Martel, Ein Hemd des 20. Jahrhunderts, Aus dem Englischen von Manfred Allié und Gabriele Kempf-Allié, Roman, 205 S., S. Fischer Verlag, 18,95 €