Weißes Gold im Wettbewerb der 70. Berlinale: „First Cow“, ein US-Beitrag von Kelly Reichardt, sprengt gängige Western-Klischees

Szene aus dem Film "First Cow" von Regisseurin Kelly Reichardt. © Allyson Riggs / A24 Films

Berlin, Deutschland (Weltexpress). Das Raubein zieht nicht den Revolver, sondern an den Zitzen eines Euters. In diesem Western ist die Beute nun einmal weiß statt golden, es geht um Milch statt der obligatorischen Nuggets. Auch sonst ist in „First Cow“, dem amerikanischen Beitrag im Wettbewerb von Kelly Reichardt, vieles anders als bei John Wayne und Co.

Oregon Country, zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Nicht nur Pelzjäger, sondern auch Cookie (John Magaro), ein wortkarger Koch, wagt sich in die dichten Wälder am Unterlauf des Columbia Rivers. Dort trifft er auf einen chinesischen Einwanderer, mit dem er sich anfreundet. King-Lu (Orion Lee), sein neuer Kumpel, erweist sich bald als ausgebuffter Geschäftsmann. Die Idee: Süßes Gebäck. Abnehmer: ein vornehmer britischer Gentleman, der naschen möchte, als wäre er beim Afternoon Tea in einem Londoner Edelhotel. Die Zutaten: Mehl, Zucker, mitunter Beeren nach Saison und, natürlich, Milch. Die liefert eine Kuh mit einem Stammbaum, bei welchem sogar die Royals vor Neid erblassen dürften. Das wertvolle Tier wurde eigens eingeschifft, in eine Gegend, die bisher eher für Biber als für Milchvieh bekannt war. Das Pikante: die kostbare Kuh gehört eben jenem Lord. Der möchte Milch, hier, in dieser Wildnis, für seinen Tee. Wie ein englischer Lord. Oder gar eine Lady, wie jemand scherzt. Doch das kostbare Nass bekommt Cookie, der das Tier heimlich nachts melkt. Und der Brite fragt sich bald, warum sein muhender Schatz mit der Milch so sehr geizt.

Der Film, übrigens hervorragend fotografiert, mag stellenweise etwas langatmig geraten sein. Sehenswert ist er dennoch. Schon wegen der amüsanten und originellen Handlung, die auch mit reichlich Humor und Wortwitz umgesetzt wurde. Zugleich haftet dem Film etwas Tragisches an, es geht um Umbrüche mit all ihren Konsequenzen, eben auch in negativer Hinsicht. Für Wildnis wie Ureinwohner läuft die Zeit ab, erklärt die Regisseurin in der anschließenden Pressekonferenz. Der Wald wird bald gerodet, der scheinbar unendliche Bestand an Bibern stark dezimiert werden. Und die verbliebenen Indianer dürfen fortan in Reservaten vor sich hinvegetieren. Ferner bricht dieser „Western“ mit sämtlichen Klischees. Keine Cowboy-Romantik, keine einsamen Revolverhelden. Keine staubigen Canyons oder endlose Prärien, keine Büffel oder Coyoten, stattdessen üppige Wälder, mit Farnen und Pilzen. Kühl und feucht ist es hier, statt heiß, staubig und trocken. Vielleicht tragen deshalb viele der Weißen Pelzmützen statt Stetson und die Indianer Hüte statt der obligatorischen Federn. Kein Wunder, dass die Protagonisten vom Süden schwärmen, von den vielen Möglichkeiten in San Francisco. Nur die Regisseurin nicht. Sie hat sich bewusst einen Drehort ausgesucht, so weit weg und so gegensätzlich wie möglich von ihrer alten Heimat ist – dem subtropischen Miami.

Filmographische Angaben

  • Originaltitel: First Cow
  • Originalsprache: Englisch
  • Staat: USA
  • Jahr: 2020
  • Regie: Kelly Reichardt
  • Buch: Jonathan Raymond, Kelly Reichardt
  • Kamera: Christopher Blauvelt
  • Schnitt: Kelly Reichardt
  • Musik: William Tyler
  • Darsteller: John Magaro (Cookie), Orion Lee (King-Lu), Toby Jones (Anführer), Scott Shepherd (Lloyd), Gary Farmer (Totillicum), Lily Gladstone (Frau des Anführers)
  • Produzenten: Vincent Savino, Anish Savjani, Neil Kopp
  • Ausführende Produzenten: Scott Rudin, Eli Bush, Christopher Carroll, Louise Lovegrove
  • Dauer: 122 Minuten
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