Weine, du geliebtes Land

Ibrahim Abu-Thuraya.
Ibrahim Abu-Thuraya. Quelle: Twitter

Tel Aviv, Israel (Weltexpress). Jeder, der die Todesstrafe befürwortet, ist entweder ein vollkommener Narr, ein unverbesserlicher Zyniker oder er ist geistesgestört – oder alles zusammen. Es gibt für keinen dieser Defekte eine wirksame Therapie. Ich würde nicht einmal versuchen, sie zu heilen. Ein Narr versteht die überzeugende Evidenz der Schlussfolgerung nicht. Für einen Zyniker ist die Befürwortung der Todesstrafe ein bewährter Stimmenfänger. Ein Geistesgestörter findet schon am bloßen Gedanken an eine Hinrichtung sein Vergnügen. Ich wende mich nicht an derartige Menschen, sondern an normale, vernünftige Bürger Israels.

Ich will damit beginnen, dass ich einmal mehr von meinen eigenen Erfahrungen erzähle. 1936 unternahm die arabische Bevölkerung von Palästina einen bewaffneten Aufstand. Die Verfolgung durch die Nazis in Deutschland trieb viele Juden nach Palästina (darunter auch meine Familie) und die dort wohnenden Araber sahen, wie ihnen der Boden unter den Füßen weggezogen wurde. Sie reagierten mit Gewalt. Sie nannten es den Großen Aufstand, die Briten sprachen von „Unruhen“ und wir nannten es „die Ereignisse“. Gruppen junger Araber griffen auf den Landstraßen jüdische und britische Fahrzeuge an. Wen die Briten fingen, verurteilten ihre Gerichte zum Tod am Galgen. Als die Angriffe der Araber nicht aufhörten, unternahmen einige rechte Zionisten einen „Rachefeldzug“ und schossen ihrerseits auf arabische Fahrzeuge. Einen von ihnen fingen die Briten. Er hieß Schlomo Ben-Josef, war ein 25jähriger illegaler Einwanderer aus Polen und Mitglied der rechten Jugendorganisation Betar. Er warf eine Bombe auf einen arabischen Bus, die nicht explodierte, und gab ein paar Schüsse ab, durch die niemand verletzt wurde. Aber die Briten sahen eine Gelegenheit, ihre Unparteilichkeit zu beweisen.

Ben-Josef wurde zum Tode verurteilt. Die jüdische Bevölkerung war bestürzt. Selbst Leute, die vollkommen gegen „Rache“ waren, baten um Nachsicht, Rabbiner beteten. Allmählich näherte sich der für die Hinrichtung angesetzte Tag. Viele erwarteten eine Begnadigung im letzten Augenblick. Sie kam nicht. Am 29. Juni 1938 wurde Ben-Josef gehenkt und das bewirkte in der jüdischen Öffentlichkeit eine mächtige Erschütterung. In meinem Leben bewirkte es eine tiefgreifende Veränderung. Ich beschloss, die Lücke, die er hinterlassen hatte, auszufüllen. Ich trat dem Irgun bei, der die extremste bewaffnete Untergrundorganisation war. Ich war 15 Jahre alt.

Ich erzähle diese Geschichte noch einmal, weil die Lehre daraus sehr wichtig ist. Ein unterdrückerisches Regime, noch dazu ein ausländisches, denkt immer, dass die Hinrichtung von „Terroristen“ andere davon abschrecken wird, sich den Rebellen anzuschließen. Dieser Gedanke entspringt der Arroganz der Herrschenden: Sie halten ihre Untertanten für minderwertig. In Wirklichkeit bewirkt dieses Vorgehen immer das Gegenteil: Der hingerichtete Rebell wird zum Nationalhelden und für jeden hingerichteten Rebellen nehmen ein Dutzend anderer den Kampf auf. Eine Hinrichtung brütet Hass aus und der Hass führt zu noch mehr Gewalt. Wenn auch noch die Familie bestraft wird, schlagen die Flammen des Hasses noch höher. Das ist eine einfache Logik. Aber Logik übersteigt die geistigen Fähigkeiten der Herrschenden. Nur ein Gedanke: Vor ungefähr 2000 Jahren wurde ein einfacher Zimmermann in Palästina gekreuzigt – und seht euch an, was daraus geworden ist!

In jeder Armee gibt es einige Sadisten, die sich als Patrioten darstellen. In meinen Armee-Tagen schrieb ich einmal: In jedem Trupp sind wenigstens ein Sadist und ein moralischer Soldat. Die anderen sind weder Sadisten noch moralisch. Sie werden von einem der beiden Typen beeinflusst; von welchem, hängt davon ab, welcher der stärkere Charakter ist. In der letzten Woche geschah etwas Schreckliches. Seit der Ankündigung des amerikanischen Chef-Narren über Jerusalem gibt es täglich Demonstrationen im Westjordanland und im Gazastreifen. Die Palästinenser im Gazastreifen gehen nahe an den Trennungszaun heran und werfen Steine auf die Soldaten auf der israelischen Seite. Die Soldaten sind angewiesen zu schießen. Tag für Tag werden Palästinenser verwundet, alle paar Tage werden Palästinenser getötet. Einer der Demonstranten war der 29jährige doppelseitig gelähmte arabische Fischer Ibrahim Abu-Thuraja. Vor neun Jahren war er durch einen israelischen Luftangriff auf Gaza verwundet worden und ihm wurden beide Beine abgenommen. Er wurde in seinem Rollstuhl über das unebene Gelände in Richtung Zaun geschoben, als ein Scharfschütze der Armee auf ihn zielte und ihn tötete. Er sei zwar unbewaffnet gewesen, habe jedoch andere aufgehetzt.

Der Mörder war kein gewöhnlicher Soldat, der vielleicht im Durcheinander, ohne zu zielen, geschossen hätte. Er war ein Profi, ein Scharfschütze, der gewohnt war, sich sein Opfer auszusuchen, sorgfältig zu zielen und die anvisierte Stelle genau zu treffen. Ich versuche mir vorzustellen, was im Kopf des Schützen vorging, bevor er schoss. Dauf seinen Kopf as Opfer war nahe. Es war vollkommen unmöglich, den Rollstuhl zu übersehen. Ibrahim stellte absolut keine Bedrohung für den Schützen oder irgendeinen anderen dar. (Sofort entstand ein grausamer israelischer Witz: Den Scharfschützen wurde befohlen, auf die unteren Körperteile der Demonstranten zu schießen. Da Ibrahim keine unteren Körperteile mehr hatte, blieb dem Soldaten nichts anderes übrig, als auf seinen Kopf zu schießen.) Es war schlicht und einfach ein Verbrechen. Ein verabscheuenswertes Verbrechen. Verhaftete die Armee – ja, meine Armee! – ihn also? Durchaus nicht. Täglich wurde eine neue Ausrede erdacht, eine immer lächerlicher als die andere. Der Name des Schützen wurde geheim gehalten. Mein Gott, was geschieht in diesem Land? Was macht die Besetzung aus uns? Natürlich wurde Ibrahim über Nacht zu einem palästinensischen Nationalhelden. Sein Tod spornt andere Palästinenser zur Teilnahme am Kampf an.

Gibt es keinen Hoffnungsschimmer? Doch, den gibt es. Wenn er auch schwach ist. Einige Tage nach dem Mord an Ibrahim Abu-Thuraya wurde eine fast komische Szene im Bild festgehalten. Im palästinensischen Dorf Nabi Saleh im besetzten Westjordanland stehen zwei vollbewaffnete israelische Soldaten. Einer ist ein Offizier, der andere ein Feldwebel. Eine Gruppe von drei oder vier 15 oder 16 Jahre alten arabischen Mädchen nähert sich ihnen. Sie schreien die Soldaten an und machen beleidigende Gesten. Die Soldaten tun so, als bemerkten sie sie nicht. Das eine Mädchen, es heißt Ached Tamimi, geht an einen der Soldaten heran und schlägt ihn. Der Soldat, der viel größer als sie ist, reagiert nicht. Das Mädchen tritt noch näher und schlägt den Soldaten ins Gesicht. Er schützt sein Gesicht mit den Armen. Ein anderes Mädchen hält die Szene mit ihrem Smartphone fest.

Und dann geschieht das Unglaubliche: Beide Soldaten gehen zurück und verlassen die Szene. (Später stellte sich heraus, dass der Cousin des einen der Mädchen ein paar Tage zuvor in den Kopf geschossen worden war.) Die Armee war von der Tatsache schockiert, dass die beiden Soldaten die Mädchen nicht erschossen hatten. Sie kündigte eine Untersuchung an. Das Mädchen und ihre Mutter wurden noch in derselben Nacht verhaftet. Die Soldaten haben einen Tadel zu erwarten. Für mich sind die beiden Soldaten wahre Helden. Leider sind Soldaten wie sie die Ausnahme. Jeder Mensch hat das Recht, stolz auf sein Land zu sein. Meiner Ansicht nach ist das gleichermaßen ein menschliches Grundrecht wie ein menschliches Grundbedürfnis.

Aber wie kann man auf ein Land stolz sein, das mit menschlichen Leichnamen Handel treibt? Im Islam ist es von großer Bedeutung, Tote so schnell wie möglich zu begraben. Die israelische Regierung weiß das und hält die Leichname Dutzender „Terroristen“ zurück. Sie benutzt sie als Handelsmünze für die Rückgabe jüdischer Leichname, die die andere Seite zurückhält. Logisch? Sicherlich. Entsetzlich? Ja. Das ist nicht das Israel, zu dessen Gründung ich beigetragen und für das ich gekämpft habe. Mein Israel würde den Vätern und Müttern die Leichname ihrer Kinder zurückgeben. Selbst wenn das bedeutete, dass man einige Handelsmünzen aus der Hand geben würde. Ist der Verlust eines Kindes nicht Strafe genug? Was ist aus unserem allgemein menschlichen Anstand geworden?

Anmerkung:

Vorstehender Beitrag von Uri Avnery wurde Ingrid von Heiseler übersetzt. Unter www.uri-avnery.de erfolgte am 30.12.2017 die Erstveröffentlichung. Alle Rechte beim Autor.

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