Wegbereiter der „Einheit“ – Die verratene Armee

Ex-DDR-NVA-Raketenschnellboot Hans Baimler in Peenrmünde. © Foto/BU: Dr. Peer Schmidt-Walther, Aufnahme: Oktober 2021

Berlin, BRD (Weltexpress). Man kommt in diesem Kontext nicht umhin, einen Blick darauf zu werfen, wie sich die Konzeption Modrows vom „Deutschland einig Vaterland“ auch auf den Militärbereich auswirkte. Nicht erst durch seinen Nachfolger im Amt, Lothar de Maizière von der CDU, sondern bereits unter Modrow wurde die Nationale Volksarmee (NVA) durch erste Generalsverhaftungen eingeschüchtert und ruhig gestellt.

Der Regierungschef ließ zu oder regte regelrecht an, dass die NVA auf allen Ebenen mit dem Oppositionsgremium des „Runden Tisches“ zusammenarbeite und diesem ein Mitspracherecht zu die Armee betreffenden „Reformen“ einräumte, womit, wie auf Regierungsebene auch, in der Armee eine „Doppelherrschaft“ installiert wurde. Das bedeutete, dass die Armeeführung, die verfassungsrechtlich ausschließlich der noch amtierenden Regierung unterstand, freiwillig militärpolitische Konzeptionen mit oppositionellen Kräften diskutierte, die eben die Streitkräfte ausschalten wollten.

Unter dem Titel „Die verratene Armee“ veröffentlichten Ralf Rudolph und Uwe Markus 2013 im Berliner Phalanx-Verlag in der Edition Militärgeschichte und Sicherheitspolitik eine Publikation zum Ende der Nationalen Volksarmee , die das beweiskräftig belegte. 1 Die Autoren waren ausgewiesene Experten: Rudolph, Jg. 1938, Oberst a. D. und Diplom-Ing., studierte am Institut für Luft- und Raumfahrt in Moskau, war langjähriger Betriebsdirektor des Raketeninstandsetzungswerkes Pinnow, danach Abteilungsleiter für Spezielle Produktion (Rüstungsproduktion) im Ministerium für Allgemeinen Maschinen-, Landmaschinen- und Fahrzeugbau, 1990 Abteilungsleiter für technische Abrüstung im Ministerium für Abrüstung und Verteidigung, schließlich Unternehmensberater für ein Schweizer Consultingunternehmen mit Arbeitsschwerpunkt Rüstungskonversion. Markus, Jg. 1958, promovierter Soziologe, war bis 1990 am Institut für Sozialwissenschaftliche Studien in Berlin tätig, seither Marktforscher, Marketingberater und Dozent. Seinen Militärdienst leistete der Oberleutnant a. D. als Zugführer eines Panzerzuges in der 9. NVA-Panzerdivision.

Kaum zu überbieten war die Heuchelei des letzten Dienstherren der NVA in der Regierung unter Lothar de Maizière, des früheren Pfarrers Rainer Eppelmann, der sich Minister für Abrüstung und Verteidigung nannte. Das ging so weit, dass dieser die NVA als „Machtinstrument des stalinistischen Unrechtsregimes der SED“ diffamierte, sie am 20. Juli 1990 gleichzeitig den Eid für den Schutz der Deutschen Demokratischen Republik schwören ließ. Nachsprechend lautete der Schlusssatz: „Ich schwöre, meine ganze Kraft zur Erhaltung des Friedens und zum Schutz der Deutschen Demokratischen Republik einzusetzen.“ Modrows Haltung wirkte in der Endphase des Anschlusses der DDR schließlich auch darauf ein, dass mit dem letzten Verteidigungsminister, Admiral Theodor Hoffmann an der Spitze, nun selbst Generäle und Admiräle bereit waren, in den Dienst der Bundeswehr, nachgewiesenermaßen seit ihrer Geburtsstunde eine von Hitlergeneralen aufgebaute Aggressionsarmee des deutschen Imperialismus, zu wechseln.

War es im Spätherbst 1989 gerechtfertigt gewesen, die NVA nicht gegen die Proteste einzusetzen, so stand diese Frage, wie die Autoren verdeutlichen, spätestens nach dem Amtsantritt der Regierung Lothar de Maizière anders. Markus/Rudolph widmen sich der bis heute nicht untersuchten Frage, ob und welche Möglichkeiten es im Militärbereich gab, dem nun massiv einsetzenden Vormarsch der Konterrevolution entgegenzutreten und ihn aufzuhalten und gingen auch auf die Frage ein, ob die Militärs der DDR einen Putsch gewagt hätten. Immerhin standen für den „Tag X“ in der DDR bereit: 365 000 Mann der Westgruppe der Sowjetarmee, 172 000 Mann der NVA, Volkspolizei und Staatssicherheit mit je 90 000 Mann Bewaffneter und (bevor sie aufgelöst wurden) 400 000 Mann der Betriebskampfgruppen. Der Innenminister de Maizières, Peter Michael Diestel, äußerte später, dass die Uniformträger gezielt mit Zuversicht geradezu zugepflastert wurden, um das zu verhindern und gab zu: „Wenn man ihnen von vornherein gesagt hätte, liebe Freunde, ihr müsst jetzt eure Waffen abgeben, und mit dem Beitritt (zur BRD) werdet ihr dann völkerrechtlich diskriminiert, werdet strafverfolgt, werdet auch in der öffentlichen Bewertung deklassiert, dann hätte es den Putsch gegeben.“ 2 Markus/Rudolph schlussfolgern: „Gegen den Widerstand einer strategisch denkenden und entschlossen auftretenden NVA-Militärführung, die sich aus dem politischen Entscheidungsprozess nicht hätte verdrängen lassen, wäre die Durchsetzung der in Bonn erdachten Auflösungsstrategie nicht möglich gewesen.“

Außer zur Rolle Eppelmanns, dessen Heuchelei keinerlei Widerstand entgegengesetzt wurde, vermerkten die Autoren, dass die Generalität unter dem neuen NVA-Chef, Admiral Theodor Hoffmann, sich auch damit abfand, dass mit Ausnahme der ersten Beratung „keine Vertreter der Militärführung bei den Verhandlungen der die NVA betreffenden Teile des Einigungsvertrages zugegen“ waren.

Der spätere langjährige Journalist der „jungen Welt“, Peter Wolters, der als Aufklärer der HVA 3 selbst zu seinen Überzeugungen mutig bis zum bitteren Ende und auch im Gefängnis der Klassenjustiz gestanden hat, stellte die Kernfrage. „Objektiv gesehen war der Anschluss der DDR eine Konterrevolution – hätte die NVA sich ihr nicht entgegenstellen müssen?“ Er fragte: „Wie hat sich die politische Führung verhalten?“ (jW, 2. Dezember 2013). Markus/Rudolph schätzten ein, „dass die noch in Amt und Würden befindliche Führungsspitze der NVA den Herausforderungen der System- und Staatskrise nicht gewachsen war“. Das Verhalten einiger ihrer Generäle und Admiräle mit Theodor Hoffmann an der Spitze – Ende September 1990 waren das noch 24 – ging so weit, dass sie selbst bereit waren in den Dienst der Bundeswehr zu wechseln.

Äußerungen von Ingo Höhmann, Jg. 1953, 1989/90 Kommandeur eines Mot.-Schützen-Batallions belegten, dass es durchaus genügend Offiziere und Soldaten gab, die bereit waren, die DDR zu verteidigen. Er sagte: „Es gab offensichtlich bei jenen DDR-Bürgern, die noch loyal zu ihrem Staat standen, die Hoffnung, dass die Armee sich der völligen Auflösung der staatlichen und politischen Ordnung entgegenstellt. Das war in meinen Augen eine Legitimation für ein stabilisierendes Eingreifen der Streitkräfte. Die DDR-Regierung hätte in der damaligen Situation jedes Recht der Welt gehabt, den Ausnahmezustand auszurufen.“ Leute wie Höhmann wurden jedoch im Stich gelassen und, wie der Titel des Buches von Rudolph/Markus, aussagt, verraten. Dass zahlreiche DDR-Bürger darauf warteten, dass die NVA Position bezieht, zeigte sich auch als im Januar 1990 250 000 Menschen an einer Protestdemonstration gegen Hakenkreuzschmierereien am Sowjetischen Ehrenmal in Berlin-Treptow teilnahmen und die in Uniform kommenden Soldaten und Offiziere u. a. mit Rufen „Da seid ihr ja endlich“ begrüßt wurden.

Markus/Rudolph leisteten mit ihrer souveränen Abhandlung einen gelungenen und tiefgehenden Beitrag zu einer immer noch ausstehenden Gesamtanalyse der Rolle der NVA in der letzten Phase der Existenz der DDR.

Anmerkungen:

1 Uwe Markus/Ralf Rudolph: Die verratene Armee. Berlin 2013.

2 Nach einem Vortrag 2008 vor Mitarbeitern des ZK der KP Kubas wurde Modrow gefragt, warum er als Ministerpräsident „die in der Verfassung definierte sozialistische Gesellschaftsordnung der DDR nicht mit den Kräften der Armee verteidigt“ habe, erklärte dieser, der Oberkommandierende der Staaten des Warschauer Vertrages, Armeegeneral Pjotr Luschow habe ihm gegenüber darauf bestanden, dass sich „auf dem Territorium der DDR keine Gewalt entwickeln dürfe, die eine sowjetische Garnison zwingen würde, ihre Waffen zu schützen“. Luschow habe deutlich gemacht, dass in solch einem Fall „Gewalt eingesetzt würde, um gegen Gewalt vorzugehen“. Modrow dazu: „Wenn es in dieser Phase auf dem Gebiet der DDR zu militärischen Einsätzen oder Auseinandersetzungen gekommen wäre, hätte das den dritten Weltkrieg auslösen können. Das war die Verantwortung in der wir standen.“ (nachzulesen in Volker Hermsdorf: „Lektionen der Geschichte. Hans Modrow über Kuba, die DDR und die Perestroika“. Berlin 2019, S. 66 ff.). Zunächst einmal war diese Entscheidung natürlich nicht ohne Zustimmung Gorbatschows als Oberbefehlshaber der Paktstaaten erfolgt, was Modrow übersieht bzw. hätte erwähnen können. Dann hatte er auch diesen schwerwiegenden Fakt fast zwei Jahrzehnte verschwiegen und ihn auch danach nicht thematisiert, was damit zusammen hängen dürfte, dass es in dieser Zeit auch von sowjetischen Militärs in der DDR – Modrow sicher bekannte – Verlautbarungen (von denen auch Markus/Rudolph ausgehen) gab, dass die sowjetischen Truppen bei Aktionen der bewaffneten Kräfte der DDR mit ihren Einheiten in den Kasernen bleiben und sich ruhig verhalten würden, bis auch anderen, die erklärten, ihren Waffenbrüdern der DDR zur Seite zu stehen. Wie ich von dem Begründer der Freundschaftsgesellchaft mit Kuba und Leiter des Netzwerkes Kuba (bis zu seinem Tod 2016), Heinz Hammer, erfuhr, wurde Modrows Meinung in Kuba generell so nicht geteilt.

3 Hauptverwaltung Aufklärung, der Auslandsnachrichtendient der DDR, der ein Bereich des Ministerium für Staatssicherheit (MfS) der DDR war.

Gerhard Feldbauer schrieb zum Thema: „Die Stunde der Opportunisten. Gregor Gysi griff 1989/90 die Liquidierung der italienischen PCI als Modell für seiner PDS auf“. Schriftenreihe „Konsequent“ der DKP Berlin, 1/2020.

Neuauflage „Die Stunde der Opportunisten. Über die Umbrüche in der SED/PDS 1989/90. Amazon 2023.

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