Ich habe es schon früher gesagt und ich werde es wieder sagen, selbst nach dem endlosen Gerede darüber. Tatsächlich ist über keinen Krieg so viel geredet worden, bevor er stattfand.
Um die klassische Filmzeile zu zitieren; „Wenn du schießen musst, dann schieße! Rede nicht!“
Von allem Gerede Netanjahus über den unvermeidlichen Krieg ragt einer seiner Sätze heraus: „Im Untersuchungskomitee nach dem Krieg werde ich selbst die Verantwortung übernehmen, ich und ich allein!“
Ein sehr enthüllendes Statement.
Erstens: ein Untersuchungskomitee wird nur nach einem militärischen Fehlschlag ernannt. Nach dem Unabhängigkeitskrieg 1948 gab es kein solches Komitee, auch nicht nach dem Sinai-Krieg 1956 und nach dem Sechstagekrieg 1967. Es gab jedoch Untersuchungskomitees nach dem Jom Kippur-Krieg 1974 und den Libanonkriegen 1982 und 2006. Indem er das Gespenst eines anderen Komitees heraufbeschwört, behandelt Netanjahu unbewusst diesen Krieg als einen unvermeidbaren Fehlschlag.
Zweitens: nach israelischem Gesetz ist die ganze Regierung Israels Oberkommandeur der Armee. Nach einem anderen Gesetz tragen alle Minister die „kollektive Verantwortung“. Das TIME-Magazin, das immer lächerlicher wird, mag „König Bibi“ krönen, aber wir haben noch keine Monarchie. Netanyahu ist nicht mehr als der primus inter pares – der erste unter Gleichen.
Drittens: in seinem Statement drückt Netanjahu grenzenlose Verachtung gegenüber seinen Ministerkollegen aus. Sie zählen nicht.
Netanjahu betrachtet sich selbst als modernen Winston Churchill. Ich kann mich nicht erinnern, dass der, nachdem er das Amt übernommen hatte, verkündigte: „Ich bin verantwortlich für die nächste Niederlage.“ Selbst in der verzweifelten Situation jener Zeit glaubte Churchill an den Sieg. Und das Wörtchen „ich“ kam nicht groß in seiner Rede vor.
Bei der täglichen Gehirnwäsche wird das Problem in militärischen Termini präsentiert. Die Debatte befasst sich mit militärischen Fähigkeiten und Gefahren.
Israelis sind verständlicherweise besonders besorgt über den Regen von Zig-Tausenden von Raketen, von denen man erwartet, dass sie in allen Teilen Israels – nicht nur aus dem Iran kommend – fallen werden, sondern auch vom Libanon und dem Gazastreifen. Der Minister für zivile Verteidigung gab gerade in dieser Woche sein Amt auf, und ein anderer, ein Flüchtling der glücklosen Kadima-Partei, hat sein Amt übernommen. Jeder weiß, dass ein großer Teil der Bevölkerung (einschließlich mir) völlig schutzlos ist.
Ehud Barak hat angekündigt, dass nicht mehr als mickrige 500 Israelis von feindlichen Raketen getötet werden. Ich hoffe nicht, die Ehre zu haben, zu ihnen zu gehören, obwohl ich in der Nähe des Verteidigungsministeriums lebe.
Aber die militärische Konfrontation zwischen Israel und dem Iran ist nur ein Teil des Bildes – und nicht der bedeutendste.
Wie ich in der Vergangenheit schon angedeutet habe, ist die Auswirkung auf die Weltwirtschaft, die so schon in einer tiefen Krise steckt, weit wichtiger. Ein israelischer Angriff wird vom Iran als von Amerika inspiriert angesehen, und die Reaktion wird entsprechend sein, wie dies vom Iran in dieser Woche ausdrücklich festgestellt wurde.
Der Persische Golf ist wie eine Flasche, deren Hals die Meerenge von Hormuz ist, die vollkommen vom Iran kontrolliert wird. Die riesigen amerikanischen Flugzeugträger, die zur Zeit im Golf stationiert sind, wären gut beraten, hinauszufahren, bevor es zu spät ist. Sie ähneln jenen alten Segelbooten, die Liebhaber in Flaschen zusammenbastelten. Selbst die mächtige militärische Ausrüstung der US wäre nicht in der Lage, die Meerenge offen zu halten. Einfache Land-See-Raketen würden genügen, um sie monatelang geschlossen zu halten. Um sie zu öffnen, wäre eine lange Landoperation durch die USA und ihre Verbündeten erforderlich. Ein langes und blutiges Geschäft mit ungewissen Resultaten.
Ein großer Teil der Weltölreserven müssen diese einzigartige Wasserstraße passieren. Sogar die bloße Drohung ihrer Schließung würde die Ölpreise unermesslich in die Höhe treiben. Derzeitige Feindseligkeiten werden weltweit einen wirtschaftlichen Kollaps verursachen mit hundert Tausenden – wenn nicht Millionen – von neuen Arbeitslosen.
Jedes dieser Opfer wird Israel verfluchen. Da es kristallklar sein wird, dass dies ein israelischer Krieg ist, wird sich die Wut gegen uns richten. Schlimmer noch, viel schlimmer – da Israel darauf besteht, es sei der „Staat für das jüdische Volk“, wird die Wut die Form eines nie da gewesenen Ausbruchs von Anti-Semitismus annehmen. Neumodische Islamophoben werden sich in altmodische Judenhasser verwandeln. „Die Juden sind unser Unglück“, wie die Nazis zu behaupten pflegten.
Dies mag am schlimmsten in den USA sein. Bis jetzt haben die amerikanischen Bürger mit einer bewundernswerten Toleranz zugesehen, wie ihre Nahost-Politik praktisch von Israel diktiert wurde. Doch sogar der AIPAC und seine Verbündeten werden nicht in der Lage sein, den Ausbruch öffentlicher Wut aufzuhalten. Sie werden hinweg gefegt werden wie die Wellenbrecher vor New Orleans.
Dies wird eine direkte Auswirkung auf eine zentrale Kalkulation der Kriegstreiber haben.
Bei privaten Gesprächen, aber nicht nur dort, behaupten sie, dass Amerika am Vorabend der Wahlen bewegungsunfähig sein wird. Während der letzten paar Wochen vor dem 6. November werden beide Kandidaten sehr große Angst vor der jüdischen Lobby haben.
Die Kalkulation von Netanjahu und Barak sieht folgendermaßen aus: sie werden angreifen, ohne sich den Teufel um die amerikanischen Wünsche zu scheren. Der iranische Gegenangriff wird gegen amerikanische Interessen gerichtet sein. Die USA werden gegen ihren Willen in den Krieg mit hineingezogen.
Doch selbst im unwahrscheinlichen Fall, dass die Iraner mit äußerster Zurückhaltung gegen ihre Statements handeln und nicht amerikanische Ziele angreifen sollten, wird Präsident Obama gezwungen sein, uns zu retten, eine riesige Menge Waffen und Munition senden, unsere Antiraketen-Verteidigung aufbessern und den Krieg finanzieren. Sonst würde er angeklagt, Israel im Stich gelassen zu haben, und Mitt Romney würde als Retter des jüdischen Staates gewählt werden.
Diese Kalkulation gründet sich auf historische Erfahrungen. Alle israelischen Regierungen der Vergangenheit haben die amerikanischen Wahljahre für ihre Zwecke ausgenützt.
Als 1948 von den USA gefordert wurde, den neuen israelischen Staat gegen den ausdrücklichen Rat des Außen- und Verteidigungsministers anzuerkennen, kämpfte Präsident Truman gerade um sein politisches Leben. Seine Wahlkampagne war bankrott. Im letzten Augenblick sprangen jüdische Millionäre in die Bresche. Truman und Israel waren gerettet.
1956 war Präsident Eisenhower inmitten seiner Wiederwahlkampagne, als Israel zusammen mit Frankreich und England Ägypten angriff. Es war eine Fehlkalkulation – Eisenhower benötigte keine jüdischen Stimmen und Geld und ließ das Abenteuer stoppen. In andern Wahljahren waren die Einsätze niedriger, aber die Gelegenheit wurde immer ausgenützt, um einige Konzessionen von den USA zu erlangen.
Wird es dieses Mal funktionieren? Wenn Israel am Vorabend der Wahlen einen Krieg auslösen wird , offensichtlich, um den Präsidenten zu erpressen, wird die amerikanische Öffentlichkeit Israel unterstützen – oder wird das Gegenteil passieren? Es wird ein entscheidendes Risiko von historischen Ausmaßen sein. Aber Netanjahu ist – wie Mitt Romney – ein Protégé des Casino-Magnaten Sheldon Adelson, und er kann nicht abgeneigter gegenüber Risiken sein, als die armen Troddel, die ihr Geld in Adelsons Casino lassen.
Wo sind die Israelis bei all diesem?
Trotz der ständigen Gehirnwäsche zeigen die Umfragen, dass die Mehrheit der Israelis absolut gegen einen Angriff ist. Netanjahu und Barak werden als zwei Suchtkranke gesehen, manche sagen Größenwahnsinnige, die nicht mehr rational denken.
Einer der bemerkenswertesten Aspekte der Situation ist, dass unser Armeechef und der ganze Generalstab als auch die Chefs des Mossad und des Geheimdienstes (Shin Bet) und fast alle ihre Vorgänger vollkommen und öffentlich gegen einen Angriff sind.
Es ist eine der seltenen Gelegenheiten, dass militärische Kommandeure moderater als ihre politischen Chefs sind, auch wenn dies in Israel schon mal vorgekommen ist. Man mag sich sehr wohl fragen: wie können politische Führer einen schicksalhaften Krieg beginnen, wenn praktisch alle ihre militärischen Berater, die unsere militärischen Fähigkeiten und Grenzen kennen, dagegen sind?
Einer der Gründe dieser Opposition ist, dass die Armeechefs besser als jeder andere wissen, wie vollkommen abhängig Israel von den USA wirklich ist. Unsere Beziehungen zu Amerika sind allein die Basis unserer nationalen Sicherheit.
Es scheint auch zweifelhaft, ob Netanjahu und Barak in ihrer eigenen Regierung und im inneren Kabinett die Mehrheit für einen Angriff haben. Einige von ihnen glauben, dass – abgesehen von allem anderen – der Angriff die Investoren und Touristen vertreiben und damit für Israels Wirtschaft sehr großen Schaden verursachen wird.
Wenn das so ist, warum glauben die meisten Israelis immer noch, der Angriff stehe bevor?
Die Israelis sind vollkommen davon überzeugt, dass (a) der Iran von einer Bande verrückter Ayatollahs ohne jede Vernunft regiert wird und (b) dass, wenn sie einmal im Besitz einer Atombombe sind, diese sicher auf uns fallen lassen.
Diese Überzeugungen gründen sich auf die Äußerungen von Mahmoud Ahmadinejad, in denen er erklärte, dass „er Israel vom Antlitz der Erde wegwischen“ wolle.
Aber sagte er das wirklich so? Sicher, er hat viele Male seine Überzeugung ausgedrückt, dass die zionistische Entität verschwinden werde. Aber anscheinend hat er dies nie gesagt, dass er – oder der Iran – etwas tun werde, um dieses Ergebnis zu erreichen.
Das mag nur ein kleiner rhetorischer Unterschied sein, aber in diesem Zusammenhang ist es sehr wichtig.
Ahmadinejad mag auch ein großes Mundwerk haben, aber seine aktuelle Macht im Iran war niemals groß und wird schnell immer weniger. Die Ayatollahs, die wirklichen Herrscher, sind weit davon entfernt, unvernünftig/irrational zu sein. Ihr ganzes Verhalten seit der Revolution zeigt, dass sie sehr vorsichtige Leute sind, abgeneigt gegenüber ausländischen Abenteuern, beschädigt von dem langen Krieg mit dem Irak, den sie weder angefangen noch gewollt haben.
Ein mit Atombomben bewaffneter Iran mag ein unbequemer Nachbar sein, aber die Drohung eines „zweiten Holocaust“ ist ein Hirngespenst manipulierter Phantasie. Kein Ayatollah wird eine Bombe abwerfen, wenn die sichere Antwort die totale Vernichtung aller iranischen Städte sein wird und es das Ende der ruhmvollen, kulturellen Geschichte Persiens bedeutet. Die Abschreckung war ja der Sinn der israelischen nuklearen Bewaffnung.
Wenn Netanjahu & Co wirklich vor der iranischen Bombe Angst hätten, dann würden sie eines von zwei Dingen tun:
Entweder der atomaren Abrüstung der Region zustimmen, und alle atomare Aufrüstung aufgeben (höchst unwahrscheinlich).
Oder mit den Palästinensern und der ganzen arabischen Welt Frieden schließen und damit die Feindseligkeit der Ajatollahs gegenüber Israel entwaffnen.
Aber für Netanjahu ist viel wichtiger, die Westbank zu behalten und die Siedlungen auszubauen als die iranische Bombe zu verhindern.
Benötigen wir einen besseren Beweis der Verrücktheit seiner Panikmacherei.
Anmerkungen:
Vorstehender Artikel von Uri Avnery wurde aus dem Englischen von Ellen Rohlfs übersetzt. Die Übersetzung wurde vom Verfasser autorisiert. Die Erstveröffentlichung erfolgte unter www.uri-avnery.de am 18.08.2012. Alle Rechte beim Autor.