Obama steckt in großen Schwierigkeiten. Groß? Riesengroß! Der bedeutendste Kampf betrifft die Gesundheitsreform.
Diese steht in keiner Verbindung zu Israel. Außerdem ist es für einen Israeli schwierig, dies überhaupt zu verstehen.
Für uns ist es schwer – tatsächlich unmöglich – zu begreifen, wie ein modernes, progressives Land ohne Krankenversicherung für alle funktionieren kann. Unser Gesundheitssystem entwickelte sich, lange bevor der Staat gegründet wurde. Krankenkassen umfassten die ganze jüdische Bevölkerung in Palästina. Nach der Gründung des Staates wurde dies zum Gesetz für alle Bürger. Jeder Israeli ist bei einer der vier offiziell anerkannten Krankenkassen versichert. Alle werden zu einem großen Teil von der Regierung finanziert, die auch entscheidet, welche Dienstleistungen von ihnen übernommen werden müssen.
In einer fortschrittlichen Gesellschaft hat eine Person ein Recht auf medizinische Grundversorgung, Krankenhauspflege, Operationen und Medikamente. Deshalb scheint es sehr merkwürdig, dass es im reichsten Land der Welt 46 Millionen * gibt, die diesen wesentlichen Schutz nicht haben. Ganz besonders in einem Land, in dem medizinische Ausgaben – in Prozenten zum Gesamtnationalprodukt ausgedrückt – viel höher sind als bei uns.
Und nun kommt Obama und schlägt einen Plan vor, der diesen Leuten die Option einer Regierungskrankenversicherung anbietet. Was könnte selbstverständlicher sein? Aber in den USA sind mächtige Kräfte dabei, dies zu verhindern, und zwar im Namen des freien Unternehmertums, der Kräfte des Marktes, des Rechtes auf Privatleben und anderer hoch-klingender Vorwände. Sie stellen Obama als zweiten Hitler oder zweiten Stalin oder gar beides dar. Und seine Popularität sinkt dramatisch.
Merkwürdig? Verrückt? Vielleicht. Aber wir müssen dies ernst nehmen – es betrifft uns direkt.
Weil Obama ein zentraler Spieler in unserem eigenen Spiel ist.
Als er an die Macht kam, begriff er, dass die Situation im erweiterten Nahen Osten verändert werden muss. Die meisten Muslime in der Welt, einschließlich der meisten Araber, hassen die USA. Aber selbst eine Weltmacht kann nicht in einer Atmosphäre des Hasses funktionieren. Der Hauptgrund für diesen Hass liegt in der unbegrenzten Unterstützung für die Regierung Israels, die die Palästinenser unterdrückt.
Acht Jahre lang handelte Präsident Bill Clinton als Agent der jüdischen Lobby für Israel. Danach war es Präsident George W. Bush, der weitere acht Jahre als Agent der christlich-fundamentalistischen Lobby für Israel handelte. Präsident Obama begreift, dass die grundlegenden US-Interessen ein Ende des israelisch-palästinensischen Konfliktes verlangen, der die ganze Region vergiftet.
Der Krieg in Afghanistan macht es noch schlimmer. Obama ist in dieses Schlamassel durch ein Versehen hinein geraten: in der Hitze des Wahlkampfes kündigte er an, die Truppen aus dem Irak abziehen zu wollen. Aber um nicht des Defätismus angeklagt zu werden, fügte er hinzu, er wolle die amerikanische Intervention in Afghanistan intensivieren.
Das war ein übereiltes Versprechen. Afghanistan ist schlimmer als der Irak. Es ist ein völlig anderer Krieg in einer völlig anderen Umgebung gegen einen völlig anderen Feind. Die USA haben keine Chance, diesen Krieg zu gewinnen, der kein klares Ziel und keinen eindeutigen Feind hat, gegen eine Bevölkerung, die sich seit der Antike in der Kunst üben musste, wie man fremde Invasoren los wird.
Es ist leicht, in einen Sumpf zu geraten, aber sehr schwierig, wieder herauszukommen. Obama hat für Afghanistan keine Exit-Strategie. Auch dies wird seine Popularität in der nächsten Zukunft beeinträchtigen.
In dieser Situation gerät er mit Binyamin Netanyahu in die Auseinandersetzung.
Es ist keine Frage mehr: das einzige Rezept für die Heilung der israelisch-palästinensischen Wunde ist die Beendigung der Besatzung und die Herstellung von Frieden zwischen dem Staat Israel und dem Staat Palästina, der neben ihm entstehen soll. Dies verlangt sinnvolle und intensive Verhandlungen innerhalb einer festgesetzten Zeitspanne. Das ist aber unmöglich, wenn gleichzeitig die Siedlungen erweitert werden. Es ist wie der palästinensische Anwalt Michael Tarasi zutreffend sagt: „Wir verhandeln über die Teilung einer Pizza, und unterdessen isst Israel die Pizza auf.“
Deshalb hat Obama der israelischen Regierung eine eindeutige Forderung gestellt: sofortiger Stop des Siedlungsbaus, einschließlich jenes in Ostjerusalems. Eine klare und logische Forderung. Aber während er Netanyahu unter Druck setzt, ist er zu Hause selbst wegen der Gesundheitsreform und des Afghanistankrieges großem Druck ausgesetzt.
Netanyahus Situations ist nicht weniger kompliziert.
Seine Regierung gründet sich auf eine Koalition von fünf verschiedenen Parteien. Die Siedler und ihre Unterstützer stellen die Mehrheit dar. Der „Linke“ in dieser Koalition, Ehud Barak, ist für die Errichtung einer noch größeren Anzahl von Siedlungen verantwortlich als Netanyahu selbst.
Netanyahu tanzt auf einem dünnen Seil über dem israelischen Jahrmarkt, ohne Sicherheitsnetz hoch über den Köpfen der Zuschauer. Er muss einen direkten Konflikt mit Obama vermeiden, unterdessen aber die Nationalisten seiner eigenen Partei und seiner Koalition zufrieden stellen.
Wie macht man das? Man muss den Amerikaner davon überzeugen, in den Siedlungen ein klein wenig an Bauaktivitäten zu erlauben, nur gerade ein klein wenig, um die Siedler ruhig zu stellen. Man muss die Siedler davon überzeugen, das Versprechen gegenüber den Amerikanern, den Siedlungsbau einzufrieren, sei nur Augenwischerei und dass in Wirklichkeit der Siedlungsbau in vollem Schwung weiter geht.
Die Amerikaner erkennen natürlich, dass unsere Regierung sie zu täuschen versucht. Wenn sie den Bau von nur weiteren 500 Häusern in den Siedelungsblocks erlauben und die Fertigstellung von weiteren 2500 im Bau befindlichen und nur ein paar mehr in Ostjerusalem, dann geht das Bauen unkontrolliert weiter.
Die Siedler wissen sehr wohl, dass ihr ganzes Unternehmen auf Täuschung und Tricks beruht: ein Haus nach dem anderen, ein Stadtteil nach dem anderen. Sie sind glücklich, Netanyahu mit dieser Methode fortfahren zu lassen. Im Augenblick verhalten sie sich ruhig und sind nicht beunruhigt, umso mehr, als sich bisher noch keine große israelische öffentliche Bewegung erhoben hatte, um Obamas Friedensbemühungen zu unterstützen.
Obamas Schwierigkeiten bezüglich der Gesundheitsreform erscheinen Netanyahu wie die Erhörung eines Gebetes. Vielleicht genügt ihm die göttliche Hilfe allein nicht, und die Pro-Israel-Lobby hilft im Stillen den Feinden der Reform. Wenn Obamas Leute entscheiden, die Zeit sei noch nicht reif für eine Konfrontation mit Netanyahu und es sich lohne, in kleinen Sachen nachzugeben – ein paar Häuser hier und ein paar Häuser dort – dann würde dies für Netanyahu ein riesiger Erfolg bedeuten. Jeder Israeli würde dies so sehen: Netanyahu stellte sich männlich der Konfrontation und Obama war es, der zuerst blinzeln musste. Aber danach, während der zweiten und dritten Schlacht, wenn Obama darauf besteht und nicht nachgeben wird, weder in Wort noch in Tat, wird Netanyahu in Schwierigkeiten geraten.
Mahmoud Abbas ist der schwächste der drei Gladiatoren. Seine Situation ist die heikelste.
Er befindet sich auf einem schlüpfrigen Abhang und muss sich auf Obama verlassen, der selbst auf der Spitze eines Turmes steht, der zusammenstürzen kann. Er hat schon erfahren, dass Netanyahu gar nicht beabsichtigt, wirkliche Verhandlungen mit ihm zu führen. Und Hamas klagt ihn der Kollaboration mit der Besatzungsmacht an.
Allgemeine Meinungsumfragen auf der Westbank scheinen anzuzeigen, dass die Popularität der Fatah steigt und dass Hamas verliert. Aber Umfragen in Palästina waren bis jetzt immer falsch (wie am Vorabend der letzten Wahlen, als sie einen großen Sieg für die Fatah voraussagten). Die Sicherheitskräfte der Palästinensischen Behörde, die vom amerikanischen General Keith Dayton trainiert werden, arbeiten eng mit den Besatzungskräften zusammen und dienen ihnen ganz offen als ihre Subunternehmer. Was mag der gewöhnliche Palästinenser auf der Straße wohl darüber denken?
Das Leben unter der Besatzung auf der Westbank ist auf eine Illusion gebaut. Die Kommentatoren preisen den Erfolg des Ministerpräsidenten der palästinensischen Behörde, Salaam Fayad, wie er die palästinensische Wirtschaft wieder aufbaut. Ramallah wächst und gedeiht. Neue Geschäfte werden eröffnet. Netanyahus „wirtschaftlicher Frieden“ wird Realität. Aber dies ist natürlich eine komplette Seifenblase: die israelische Armee kann all dies in einer halben Stunde zerstören, wie sie dies 2002 bei der Operation „Schutzschild“ gemacht hat.
Wenn Abbas auf dem Weg zum Frieden innerhalb weniger Monate nicht einen eindrucksvollen Fortschritt aufzeigen kann, dann kann alles zusammenbrechen. General Dayton hat schon gewarnt, wenn nicht „innerhalb von zwei Jahren“ Frieden erreicht wird, werden sich die von ihm trainierten Kräfte gegen die israelische Besatzung (und natürlich auch gegen Abbas) wenden. Die Hamas macht ihnen schon die Hölle heiß.
In ein paar Tagen sollen die drei – Obama, Netanyahu und Abbas – in New York eine Gipfelkonferenz halten und das Friedensschiff in Gang bringen.
Es wird ein interessantes Treffen werden – falls es stattfindet – weil jeder der drei auf einem wackligen Stuhl sitzen wird. Während sie mit ihren beiden Kollegen reden werden, wird jeder außerdem mit seinen Feinden zu Hause beschäftigt sein.
Das ist natürlich keine ungewöhnliche Situation. Henry Kissinger sagte einmal, dass Israel keine Außenpolitik, sondern nur Innenpolitik hat. Das stimmt wohl mehr oder weniger für jedes Land. Die USA, Israel und Palästina sind in dieser Hinsicht keine Ausnahme.
Kommentatoren in Elfenbeintürmen, die gewohnt sind, den politischen Führern Ratschläge zu erteilen und ihnen zu sagen, was sie tun sollen, verfehlen häufig diese Dimension. Eine Person, die nie die Hitze einer Wahlkampagne durchgemacht hat, wird kaum Verständnis für die volle Tragweite der Motive eines Politikers aufbringen. Es war Otto von Bismarck – durch und durch ein Politiker – der sagte: „Politik ist die Kunst des Möglichen“.
Wie können die Friedensbemühungen zurück in den Bereich des Möglichen gerückt werden? Bei dieser Kampagne hat das israelische Friedenslager eine doppelte Aufgabe: erstens die Politik des Ausweichens und der Täuschung unserer Regierung aufzudecken; und zweitens Obamas Hände bei seinen Bemühungen, dieser Region den Frieden zu bringen, zu stärken. Es ist wichtig, dass ein starkes und authentisches israelisches Lager seine Unterstützung für seine Bemühungen zum Ausdruck bringt. Unsere Freunde in den USA, Europa und in der ganzen Welt haben die gleiche Aufgabe.
Dieser dreifache Kampf findet nicht in einem römischen Amphitheater statt, und wir sind keine Zuschauer. In diesem Spiel geht es um nichts weniger als um unser Leben.
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Anmerkungen:
Vorstehender Artikel von Uri Avnery wurde dem Englischen von Ellen Rohlfs und Christoph Glanz übersetzt. Die Übersetzung wurde vom Verfasser autorisiert. Der am 12.09.2009 erstellte Beitrag wurde zuerst unter www.uri-avnery.de veröffentlicht. Alle Rechte beim Autor.